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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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unserem Verständnis. Simon aus Neapel ist nach England gekommen, um die Juden von dieserSchuld zu befreien, aber ich bitte Euch nicht, ihm zu helfen, weil Ihr Jüdin seid. Ich bitte Euch, weil es gegen jedes Gesetz Gottes und der Menschen ist, dass Kinder so leiden, wie diese Kinder gelitten haben.«
    Der Lärm in der Burg schwoll zu seinem üblichen Crescendo an, bis das Geschrei von Roger aus Acton sich dagegen ausnahm wie Vogelgezwitscher.
    Das Brüllen eines Bullen, der darauf wartete, gefüttert und getränkt zu werden, gesellte sich zum Kreischen eines Schleifsteins, an dem Knappen die Messer ihrer Herren wetzten. Soldaten exerzierten. Kinder spielten lachend und rufend im Garten des Sheriffs.
    Ein wenig abseits auf dem Turnierplatz übte ein Steuereintreiber, der beschlossen hatte, etwas abzunehmen, gemeinsam mit den Rittern den Kampf mit Holzschwertern.
    »Was wollt Ihr wissen?«, fragte Dina.
    Adelia tätschelte ihr die Wange. »Ihr seid Eurer tapferen Mutter würdig.« Sie holte tief Luft. »Dina, Ihr habt den Leichnam im Garten liegen sehen, bevor die Lampen gelöscht wurden, bevor er in ein Tischtuch gehüllt wurde, bevor er weggebracht wurde. In welchem Zustand befand er sich?«
    »Der arme Junge.« Diesmal weinte Dina nicht um sich, nicht um ihr Kind, nicht um ihre Mutter. »Der arme kleine Junge. Jemand hatte ihm die Augenlider abgeschnitten.«

Kapitel Acht
    I ch musste mich vergewissern«, sagte Adelia. »Es hätte ja sein können, dass der Junge von jemand anderem getötet worden ist als von unserem Mörder oder dass er durch einen Unfall gestorben ist – die Verletzungen hätten ihm auch beigebracht werden können, als er schon tot war.«
    »Ja, so was tun sie gern«, sagte Simon. »Kinder, die durch einen Unfall ums Leben kommen, tauchen ganz unvermutet im Garten des nächstbesten Juden auf.«
    »Ich musste sichergehen, dass er wie die anderen gestorben war. Ich brauchte den Nachweis.« Adelia fühlte sich ebenso erschöpft wie Simon, auch wenn sie das, was Chaim und Yehuda mit der Leiche des Jungen gemacht hatten, nicht mit dem gleichen Ekel betrachtete wie er. Sie empfand Mitleid mit ihnen. »Wir wissen jetzt mit Sicherheit, dass die Juden ihn nicht umgebracht haben.«
    »Und wer wird das glauben?« Simon war sichtlich bedrückt.
    Sie saßen beim Abendessen. Die letzten Sonnenstrahlen, die durch die lächerlichen Fenster fielen, wärmten den Raum und überzogen Simons Zinnkrug mit Gold. Um den Wein zu sparen, hatte er auf englisches Bier zurückgegriffen. Mansur trank den Gerstensaft, den Gyltha für ihn angerührt hatte.
    Jetzt fragte Mansur: »Wieso schneidet der Hund ihnen die Augenlider ab?«
    »Ich weiß es nicht.« Adelia wollte nicht über mögliche Gründe nachdenken.
    »Wollt Ihr wissen, was ich glaube?«, fragte Simon.
    Sie wollte nicht. In Salerno wurden ihr mitunter Tote gebracht, die unter verdächtigen Umständen ums Leben gekommen waren. Sie untersuchte sie. Sie teilte ihrem Ziehvater die Ergebnisse der Untersuchung mit, die er dann an die Behörden weitergab. Die Leichen wurden weggebracht. Manchmal, stets zu einem späteren Zeitpunkt, erfuhr sie, was mit dem Täter oder der Täterin geschehen war – ob er oder sie gefunden worden war. Jetzt war sie zum ersten Mal unmittelbar an der Jagd nach einem Mörder beteiligt, und es bereitete ihr kein Vergnügen.
    »Ich glaube, sie sterben ihm zu schnell«, sagte Simon. »Ich glaube, er möchte ihre Aufmerksamkeit auch noch, wenn sie tot sind.«
    Adelia wandte den Kopf ab und beobachtete, wie winzige Mücken in einem Streifen Sonnenlicht tanzten.
    »Ich weiß, welche Teile ich ihm abschneide, wenn wir ihn gefasst haben,
Inschallah«,
sagte Mansur.
    »Ich werde dir dabei helfen«, sagte Simon.
    Zwei so unterschiedliche Männer. Der Araber, hoch aufgerichtet auf seinem Stuhl, das Gesicht, umrahmt vom weißen Stoff seiner Kopfbedeckung, so dunkel, dass es kaum zu erkennen war; der Jude, dessen Wangenlinie in der Sonne leuchtete, vorgebeugt, während seine Finger den Bierkrug drehten. Beide im Einklang.
    Wieso hielten Männer das für das Schlimmste überhaupt? Vielleicht war es das ja für sie. Aber es war banal, als würde man ein bösartiges Tier kastrieren. Der Schaden, den diese Kreatur angerichtet hatte, war zu gewaltig für menschliche Vergeltung, der von ihr verursachte Schmerz hatte zu weit um sich gegriffen. Adelia dachte an Agnes, die Mutter von Harold, die vor der Burg Wache hielt. Sie dachte an die Eltern, die sich um die

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