Die Totenleserin1
kleinen Särge in der Kirche St. Augustine versammelthatten. An die beiden betenden Männer in Chaims Keller, die ihrem inneren Wesen Gewalt antaten, indem sie sich von einer schrecklichen Last befreiten. Sie dachte an Dina und den Schatten, der sich für immer auf sie gelegt hatte.
So erklärte sich der Wunsch nach ewiger Verdammnis, dachte sie, denn für so eine Tat gab es keine Wiedergutmachung, auch nicht für die Lebenden, die zurückblieben. Nicht in diesem Leben.
»Seid Ihr mit mir einer Meinung, Doktor?«
»Was?«
»Meine Theorie, was die Verstümmelungen betrifft.«
»Das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin nicht hier, um zu verstehen, warum ein Mörder tut, was er tut, ich muss lediglich beweisen, dass er es getan hat.«
Sie starrten sie an.
»Ich entschuldige mich«, sagte sie etwas leiser, »aber ich werde mich nicht in seinen Kopf versetzen.«
Simon sagte: »Genau das müssen wir vielleicht, ehe das alles hier vorbei ist, Doktor. So denken, wie er denkt.«
»Dann tut Ihr das«, sagte sie. »Ihr seid doch der Scharfsinnige unter uns.«
Er stieß einen traurigen Seufzer aus. Sie waren an diesem Abend alle gedrückter Stimmung. »Fassen wir zusammen, was wir bisher über ihn wissen. Mansur?«
»Vor dem kleinen heiligen Jungen gab es hier keine Morde. Vielleicht ist er erst vor einem Jahr hierhergekommen.«
»Aha, dann glaubst du also, er hat vorher schon gemordet, irgendwo anders?«
»Ein Schakal ist und bleibt ein Schakal.«
»Stimmt«, sagte Simon. »Er könnte aber auch ein neuer Rekrut in den Armeen des Beelzebub sein und gerade erst angefangen haben, seine Gelüste zu stillen.«
Adelia runzelte die Stirn. Dass der Mörder ein sehr junger Mann sein könnte, widersprach dem Bild, das sie sich von ihm machte.
Simon hob den Kopf. »Ihr seht das anders, Doktor?«
Sie seufzte, ließ sich widerwillig auf das Gespräch ein. »Spekulieren wir?«
»Mehr können wir kaum tun.«
Zögerlich, denn all ihre Überlegungen beruhten auf kaum mehr als einem undeutlichen Schatten im Nebel, sagte sie: »Die Angriffe geschehen in Raserei, was für Jugend spricht, aber sie sind geplant, was für Reife und Erfahrung spricht. Er lockt sie an einen besonderen und einsamen Ort wie den Hügel. Ich glaube, dass dem so ist, weil niemand hört, wie die Kinder gequält werden. Möglicherweise lässt er sich Zeit, nicht im Fall des Kleinen Peter – da ist er hastiger vorgegangen –, aber bei den Kindern danach.«
Sie stockte, weil die Theorie furchtbar war und nur auf wenigen Anhaltspunkten gründete. »Es ist möglich, dass er sie nach ihrer Entführung noch eine Zeit lang leben lässt. Das würde für eine perverse Art der Geduld und eine Vorliebe für ausgedehnte Qualen sprechen. Bei seinem letzten Opfer hätte ich in Anbetracht des Tages, an dem der Junge entführt wurde, mit einer weiter fortgeschrittenen Verwesung gerechnet.«
Sie funkelte die beiden Männer an. »Aber das könnte so viele Gründe haben, dass es als Theorie nun wirklich keinerlei Gewicht hat.«
»Ach.« Simon stieß seinen Becher weg, als könnte er dessen Anblick nicht länger ertragen. »Wir sind keinen Schritt weiter. Wir werden wohl doch nicht umhinkommen, uns näher mit den neunundvierzig Leuten zu beschäftigen, ob sie nun schwarzes Kammgarn tragen oder nicht. Und ich werde meiner Frau schreiben müssen, dass ich noch nicht nach Hause komme.«
»Da ist noch was«, sagte Adelia. »Der Gedanke ist mir heute gekommen, als ich mit Mistress Dina gesprochen habe. Die arme Frau glaubt, hinter all den Morden stecke die Absicht, ihrem Volk die Schuld in die Schuhe zu schieben …«
»Das sehe ich nicht so«, sagte Simon. »Ja, er versucht mit seinen Davidsternen die Juden in Verdacht zu bringen, aber das ist nicht der Grund, warum er mordet.«
»Das glaube ich auch. Das Hauptmotiv für die Morde hat nichts mit Glaubensfragen zu tun. Dafür ist zu viel sexuelle Brutalität im Spiel.«
Sie hielt inne. Obwohl sie geschworen hatte, sich nicht in den Kopf des Mörders zu versetzen, spürte sie, wie sie in dessen Sog geriet. »Dennoch ist er nicht abgeneigt, einen Nutzen daraus zu schlagen. Wieso hätte er sonst den Leichnam des Kleinen Peter auf Chaims Wiese werfen sollen?«
Simons Augenbrauen schnellten in die Höhe. Die Antwort war doch wohl offensichtlich. »Chaim war Jude, der ewige Sündenbock.«
»Es hat ja auch verdammt gut geklappt«, sagte Mansur. »Kein Verdacht gegen den wahren Mörder. Und …«, er fuhr sich mit einem Finger über
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