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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Rechts von ihr, in der Ferne, lag die von Wald umgebene nackte Hügelspitze, auf dem sie, Simon, Mansur und Ulf drei Stunden lang die sonderbaren Vertiefungen im Boden in Augenschein genommen, unter Büsche gespäht und nach einem Versteck gesucht hatten, wo Morde geschehen waren – doch ohne Erfolg.
    Leichter Nieselregen kam und ging, wenn Wolken die Sonne verdeckten und sie dann erneut scheinen ließen.
    Das Wissen, dass irgendwo ganz in der Nähe ein Golgatha war, hatte die Geräusche der Natur verändert. Der Gesang von Grasmücken, Blätter, die im Regen bebten, der Wind, der einen alten Apfelbaum knarren ließ, das Schnaufen von Simon, dem Städter, wenn er strauchelte, der knirschende Laut, wenn die Schafe Gras ausrupften, über all das hatte sich für Adelia eine bedrückende Stille gelegt, in der noch immer ungehörte Schreie nachhallten.
    Sie war froh gewesen, als sie weit weg den Schäfer sah, den Schäfer der Priorei – denn die Schafe gehörten zu St. Augustine –, und hatte den Vorwand genutzt, mit Ulf zu ihm zu gehen, während die beiden Männer weitersuchten.
    Zum zehnten Mal ging sie die Gründe durch, die sie alle hierhergeführt hatten. Die Kinder waren in einer Gegend mit kreidehaltigem Boden gestorben; daran bestand kein Zweifel.
    Sie waren auf Schwemmsandboden gefunden worden – da unten auf einer schlammigen Schafweide, die an den Hügel grenzte. Und noch dazu waren sie genau an dem Morgen gefunden worden, nachdem Fremde den Hügel betreten hatten.
    Also waren die Leichen in der Nacht aus ihren Gräbern in kreidehaltigem Boden weggeschafft worden. Und der nächste Ort mit kreidehaltigem Boden, der einzige, von dem sie in der Zeit hatten weggebracht werden können, war der Wandlebury Ring.
    Sie blickte in die Richtung, blinzelte die Regentropfen des letzten Schauers weg und sah, dass Simon und Mansur verschwunden waren.
    Wahrscheinlich suchten sie auf den tiefer liegenden, dunklen Pfaden unter überhängenden Bäumen, den Gräben, von denen der Hügel einmal umringt gewesen war.
    Was waren das für Leute, die einst die Gräben zur Befestigung angelegt hatten, und zum Schutz wovor? Sie fragte sich auf einmal, ob das Blut der Kinder das einzige war, das dort vergossen worden war. Konnte ein Ort in sich böse sein und finstere Seelen anlocken wie die des Mörders?
    Oder war Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar so abergläubisch wie ein alter Mann, der über einem Stück Gras Gebete murmelte?
    »Spricht er nun mit uns oder nicht?«, zischte sie Ulf zu. »Er weiß doch bestimmt, ob es da oben irgendwo eine Höhle gibt. Irgendwas.«
    »Der geht nich mehr auf den Berg«, zischte Ulf zurück. »Er sagt, der Leibhaftige tanzt nachts da oben. Die Mulden sind seine Fußabdrücke.«
    »Er lässt aber seine Schafe da rauf.«
    »Ist um diese Jahreszeit das meilenweit beste Weideland. Sein Hund ist bei ihnen. Der bellt, wenn sich eins verirrt.«
    Ein schlauer Hund. Er hatte nur kurz die Lefzen gehoben und Aufpasser war vom Hügel gefegt, um in sicherer Entfernung auf sie zu warten.
    Sie fragte sich, zu welcher Lieben Frau der Schäfer wohl betete. Zu Maria, der Mutter Jesu? Oder zu einer sehr viel älteren Mutter?
    Die Kirche hatte es nicht geschafft, alle Götter der Erde zu verbannen. Für diesen alten Mann waren die Vertiefungen oben auf dem Hügel wahrscheinlich die Hufabdrücke eines Schreckens, der Tausende von Jahren älter war als der Satan der Christenheit.
    Vor ihrem geistigen Auge erschien das Bild einer riesigen gehörnten Bestie, die auf den Kindern herumtrampelte. Dann wurde sie richtig böse auf sich selbst – was war nur los mit ihr?
    Außerdem wurde sie immer nasser und fror. »Frag ihn, ob er den Leibhaftigen wirklich da oben gesehen hat.«
    Ulf stellte die Frage mit leiser Singsangstimme, so dass sie kein Wort verstand. Der alte Mann erwiderte im gleichen Tonfall.
    »Er geht da nich mehr hin, sagt er. Und das würd ich auch nich. Aber er hat nachts da oben Feuer gesehen …«
    »Was für Feuer?«
    »Lichter. Teufelsfeuer, meint Walt. Um das er drum rum tanzt.«
    »Was genau für ein Feuer? Wann? Wo?«
    Doch die raschen Fragen hatten den Frieden gestört, den der Schäfer gerade mit dem Geist des Ortes schloss. Ulf gebot ihr mit einem Finger zu schweigen, und Adelia überließ sich wieder ihren Gedanken an das Spirituelle, das Gute und das Böse.Heute auf dem Hügel war sie froh gewesen, dass sie unter ihrem Gewand wie immer das kleine Holzkruzifix trug, das Margaret ihr geschenkt hatte,

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