Die Totenleserin1
obwohl sie es eigentlich nur für Margaret trug.
Nicht dass sie irgendetwas gegen den Glauben des Neuen Testamentes hatte. Für sich allein genommen war es gewiss eine Religion der Sanftheit und des Mitgefühls. Ja, als sie neben ihrer sterbenden Amme auf den Knien lag, hatte sie Margarets Jesus angefleht, die gute Frau zu retten. Er hatte es nicht getan, aber Adelia verzieh es ihm. Margarets liebevolles altes Herz war schon zu müde gewesen, um weiter zu schlagen – und so war das Ende wenigstens friedlich gewesen.
Nein, was Adelia störte, war, dass die Kirche Gott als engstirnigen, dummen, geldgierigen, rückschrittlichen, vorsintflutlichen Tyrannen darstellte, der einerseits eine ungeheuer mannigfaltige Welt erschaffen, andererseits aber die Erforschung ihrer Vielschichtigkeit verboten hatte und Sein Volk somit zu hilfloser Ignoranz verdammte.
Und die Lügen. Als sie mit sieben Jahren im Konvent San Giorgio Lesen und Schreiben lernte, hatte Adelia alles geglaubt, was die Nonnen und die Bibel ihr erzählten – bis Mutter Ambrosia das mit den Rippen erwähnte …
Der Schäfer war mit Beten fertig und sprach jetzt mit Ulf. »Was sagt er?«
»Er sagt was über die toten Kinder, was der Teufel mit ihnen gemacht hat.«
Ihr fiel auf, dass der alte Walt mit Ulf wie mit seinesgleichen sprach. Vielleicht, so dachte Adelia, fiel der Altersunterschied zwischen ihnen ja nicht ins Gewicht, weil Ulf des Lesens mächtig war, was ihn für den Schäfer auf eine andere Stufe hob.
»Was sagt er jetzt?«
»Er sagt, so was hätte er nich mehr gesehen gehabt, seit derLeibhaftige das letzte Mal hier war und das Gleiche mit ein paar Schafen gemacht hat.«
»Ach so.« Ein Wolf oder so.
»Er sagt, er hatte gehofft, den Burschen nie wieder zu sehen, aber er ist doch wiedergekommen.«
Was der Leibhaftige mit den Schafen gemacht hat
. Eindringlich fragte Adelia: »Was hat er gemacht?« Und dann fragte sie: »Was für Schafe? Wann?«
Ulf stellte die Frage und erhielt die Antwort: »Im Jahr von dem großen Sturm war das.«
»Verflixt noch mal. Ach, egal.
Wo hat er die Kadaver hingeschafft?«
Zuerst nahmen Adelia und Ulf Äste als Spaten, doch der Kreideboden war zu krümelig, um sich in größeren Brocken herausheben zu lassen, weshalb sie schließlich mit den Händen weitergraben mussten. »Wonach suchen wir eigentlich?«, hatte Ulf gefragt, durchaus zu Recht.
»Nach Knochen, Junge, Knochen. Irgendwer, kein Fuchs, kein Wolf, kein Hund … irgend
wer
hat die Schafe angegriffen, das hat er gesagt.«
»Der Leibhaftige, hat er gesagt.«
»Es gibt keinen Leibhaftigen. Die Wunden waren ähnlich, hat er das nicht gesagt?«
Ulfs Gesicht wurde stumpf, ein Zeichen – sie kannte ihn inzwischen schon ganz gut –, dass es ihn sehr mitgenommen hatte, was der Schäfer ihm über die Wunden erzählt hatte.
Und vielleicht hätte er es auch besser gar nicht hören sollen, dachte sie, aber dafür war es jetzt zu spät. »Grab weiter. In welchem Jahr war der große Sturm?«
»In dem Jahr, als der Glockenturm von St. Ethel runtergefallen ist.«
Adelia seufzte. In Ulfs Welt vergingen die Jahreszeiten ungezählt, Geburtstage blieben unbeachtet, nur ungewöhnliche Ereignisse markierten das Vergehen der Zeit. »Wie lange ist das her?« Sie fügte als Hilfe hinzu: »Wie viele Weihnachten?«
»Das war nich an Weihnachten, es war so um Ostern.« Doch der Ausdruck in Adelias kreideverschmiertem Gesicht ließ ihn nachdenken. »Sechs, sieben Weihnachten.«
»Grab weiter.«
Es war also sechs, sieben Jahre her.
Damals hatte es auf dem Wandlebury Ring einen Schafstall gegeben. Der alte Walt sagte, er habe die Herde nachts darin eingesperrt. Aber nicht mehr seit dem Morgen, an dem er gesehen hatte, dass die Stalltür aufgerissen worden war und im Gras drum herum niedergemetzelte Tiere lagen.
Als Prior Geoffrey davon erfuhr, hatte er die Überzeugung des Schäfers, dass es sich um Teufelswerk handelte, nicht so recht geteilt. Wohl eher ein Wolf, hatte Prior Geoffrey gesagt, und Jäger losgeschickt.
Aber Walt wusste, dass es kein Wolf gewesen war. Wölfe taten so etwas nicht, nicht
das
. Er hatte am Fuß des Hügels, in einiger Entfernung vom Weideland, eine Grube ausgehoben und die toten Tiere nacheinander hinuntergetragen, um sie dort »ehrfurchtsvoll zu bestatten«, wie er Ulf erklärte.
Wie gequält musste eine Menschenseele sein, um wie verrückt mit dem Messer auf ein Schaf einzustechen?
Nur eine Seele. Bitte, Gott, nur eine.
»Da ist
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