Die Totenleserin1
Bräuchen festhielt. Während des ersten Kreuzzuges hatten die christlichen Heere, angefüllt mit religiösem Eifer und Alkohol, es als ihre Pflicht gesehen, alle Juden zu bekehren, die ihnen über den Weg liefen, und sie hatten sie vor die Wahl gestellt: Taufe oder Tod. Tausende von toten Juden waren die Antwort gewesen.
Rabbi Gotsce war durchaus ein vernünftiger Mann, aber er würde lieber auf den Stufen dieses Turmes sterben, als einen Grundsatz seines Glaubens zu brechen und einer Frau zu erlauben,den Leichnam eines Mannes zu berühren, ganz gleich, welcher Nutzen sich aus der Berührung ergeben könnte.
Was nur bewies, dachte Adelia, dass die drei großen Religionen, zumindest was die Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts anging, einer Meinung waren. Tatsächlich dankte ein frommer Jude Gott täglich im Gebet dafür, dass er nicht als Frau geboren worden war.
Während sie ihren Gedanken nachhing, hatte das hitzige Gespräch, bei dem vor allem Sir Rowleys Stimme zu hören gewesen war, seinen Fortgang genommen. Jetzt kam er zu ihr herüber. »Ich habe Folgendes erreicht«, sagte er. »Der Prior und ich dürfen uns den Leichnam ansehen. Ihr könnt draußen vor der Tür bleiben und uns sagen,
worauf
wir achten sollen.«
Absurd, aber da es allen entgegenkam, sie eingeschlossen …
Mit erheblicher Anstrengung hatten die Juden den Toten in das einzige unbewohnte Zimmer oben im Turm getragen, wo sie und Simon und Mansur mit dem alten Benjamin und Yehuda gesprochen hatten.
Aus Angst, sie könnte sich aus übertriebenem Eifer nicht an die Absprache halten, hatte der Rabbi darauf bestanden, dass Adelia einen Treppenabsatz tiefer wartete, im Beisein des Aufpassers. Sie hörte, wie die Tür des Zimmers geöffnet wurde. Ein paar Wortfetzen in der Stimme des alten Benjamin, der aus den
Tehillim
sang, drangen kurz die Treppe herab an ihr Ohr, bevor die Tür wieder geschlossen wurde.
Picot hat Recht, dachte sie, Simon soll nicht ungehört bestattet werden. Der Geist dieses Mannes würde es als größere Schändung sehen, wenn niemand sich anhörte, was sein toter Körper zu sagen hat.
Sie setzte sich auf eine Steinstufe und sammelte sich, richtete ihre Gedanken auf die Gesetzmäßigkeiten beim Tod durch Ertrinken.
Es war schwierig. Ohne die Lunge öffnen zu können, um nachzusehen, ob sie sich aufgebläht hatte und Schwemmsand oder Algen enthielt, würde sich die Diagnose weitestgehend auf den Ausschluss anderer Todesursachen beschränken müssen. Wahrscheinlich, so dachte sie, würden sich keinerlei Anzeichen dafür finden lassen, ob es sich um Mord handelte. Sie würde höchstens feststellen können, dass Simon tatsächlich ertrunken war, ob er noch am Leben war oder nicht, als er ins Wasser fiel, aber die entscheidende Frage bliebe offen: War er versehentlich ins Wasser gefallen oder gestoßen worden?
Die Stimme des alten Benjamin:
»Herr, Du warst unsere Zuflucht, von Geschlecht zu Geschlecht …«
Und gleich darauf die wuchtigen Schritte des Steuereintreibers, der schwerfällig die Treppe herunterkam.
»Er sieht friedlich aus. Womit sollen wir anfangen?«
Sie sagte: »Dringt Schaum aus Mund und Nase?«
»Nein. Sie haben ihn gewaschen.«
»Drückt auf die Brust. Wenn dann Schaum kommt, wischt ihn ab und drückt erneut.«
»Ich weiß nicht, ob der Rabbi das zulässt. Nichtjüdische Hände.« Adelia stand auf. »Fragt ihn nicht, tut es einfach.« Sie war wieder die Ärztin der Toten.
Rowley eilte die Treppe hinauf.
»… Nicht fürchtest Du das Grauen der Nacht, den Pfeil, der fliegt bei Tage …«
Sie lehnte sich in die dreieckige Schießscharte neben ihr, streichelte dem Aufpasser gedankenverloren den Kopf und blickte hinaus auf den Fluss und die Bäume und die Hügel dahinter, wie aus einer Vergil’schen Pastorale.
Aber
ich
fürchte das Grauen der Nacht, dachte sie.
Sir Rowley war wieder neben ihr. »Schaum«, sagte er knapp.
»In beiden Fällen. Rosa.«
Dann hatte er im Wasser noch gelebt. Ein Indiz, aber kein Beweis. Vielleicht hatte sein Herz ausgesetzt, und er war deshalb ins Wasser gefallen. »Hat er Blutergüsse?«, fragte sie.
»Ich kann keine feststellen. Zwischen den Fingern ist die Haut eingerissen. Der alte Benjamin hat gesagt, in den Wunden steckten Pflanzenstängel. Hat das etwas zu bedeuten?«
Auch das bedeutete, dass Simon noch am Leben war, als er in den Fluss fiel. In der schrecklichen kurzen Zeit, die sein Sterben währte, hatte er Schilf und Wasserpflanzen abgerissen, und
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