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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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aufprallte und sich das Genick brach. Doch wie um Himmels willen sollte sie sich überwinden, zu springen? Die vom Selbsterhaltungstrieb auferlegte Sperre überwinden, weil eine Psychopathin von ihr verlangte, die Bürde des Mordes zu tragen. Ein letzter Funke Widerstand tauchte aus dem Nichts auf. Wenn sie schon ihr Leben hier verwirken sollte, dann bestimmt nicht freiwillig! Zoe straffte die Schultern und blickte der Tyrannin ins Gesicht.
    »Auf keinen Fall werde ich springen. Wenn Sie meinen Tod wollen, werden Sie auch die Schuld dafür tragen!«
    Frau Nauen starrte sie für eine Weile an, schien abzuwägen, was sie als Nächstes tun wollte. Der Funke Hoffnung in Zoe wurde jedoch schnell zerstört.
    Gleichmütig, als entschiede sie über die Wahl neuer Fensterbehänge und nicht über das Leben eines Menschen, zuckte Frau Nauen mit den Schultern. »Von mir aus. Dann eben auf diese Weise.«
    Alarmiert von der akuten Gefahr, setzte Zoes Körper sich wie von allein in Bewegung. Plötzlich erfüllt vom Willen, zu überleben, wich sie zur Seite aus, um wegzulaufen. Doch sie kam nicht weit. Aus dem Augenwinkel heraus nahm sie wahr, wie die Rohrzange durch die Luft flog und schnell an Höhe verlor, aber nicht an Geschwindigkeit. Mit voller Wucht traf das eiserne Werkzeug auf Zoes Schienbein. Der Schmerz war gleißend. Das Bein knickte ihr weg. Sie geriet halb laufend ins Straucheln. Ihr Fuß trat ins Leere, als hätte er eine Stufe erwartet, wo keine war. Ihre Arme zuckten unter dem Reflex, zu wedeln, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Doch sie waren eng am Rücken fixiert, wodurch die letzte Chance vereitelt wurde, sich noch rechtzeitig am Rand festzuhalten. Zoe stürzte mit dem Kopf voran in die Tiefe. Ihr eigener Schrei gellte in ihren Ohren, hallte als Echo von den Felswänden zurück. Blitze explodierten in ihrem Kopf, schickten Momentaufnahmen ihres Lebens vor ihrem inneren Auge vorbei. Zuletzt sah sie Leons Gesicht. Er lächelte. Dann wurde es dunkel.

    Leon befand sich im Treppenhaus des Amtsgerichts in Sankt Goar, einem alten Sandsteingebäude, das durch ein besonders schönes Portal und hohe stuckverzierte Fenster auffiel. Es gab einen altmodischen Paternosteraufzug und im Laufe der Jahrzehnte durchgetretene Massivholzstufen. Doch dafür hatte der wütende Pulk draußen keinen Blick. Sie waren aus den umgebenden Orten herbeigeströmt und schwenkten bemalte Plakate. Eine Demonstration von dieser Größe hatte es im Hunsrück seit den Achtzigern nicht mehr gegeben. Von seinem Vater hatte Leon zahlreiche Berichte über die damalige Friedensbewegung gehört, in deren Rahmen regelmäßig überall in Deutschland autonome und alternative Demonstranten zusammenkamen. Unter dem gemischten Volk befanden sich auch nun zahlreiche Aktivisten einer Generation, die das Demonstrieren nie verlernt hatte. Allerdings hegte Leon den Verdacht, dass ein Großteil von ihnen für heute das Reihenhaus verlassen hatte, um die Gelegenheit zu nutzen, noch einmal den Kampf gegen das System aufzunehmen. Von einer einheitlichen Parole war jedoch wenig zu erkennen. Stattdessen wurde die Stimmung von den Zwischenrufen gegensätzlicher Parteien angeheizt. Lebenslänglich für die Bestie auf der einen und Freispruch für den Unschuldigen auf der anderen Seite. Als besonders bedenklich empfand Leon die Transparente, auf denen in roter Schrift die Säuberung des Hunsrücks von kriminellen Subjekten gefordert wurde.
    Polizisten versuchten, für Ordnung zu sorgen. Die ersten leeren Flaschen flogen wie Wurfgeschosse über die Köpfe der Demonstranten hinweg. Wenn es so weiterging, würde in Kürze der Bundesgrenzschutz gerufen werden, um die brave Bürgerschaft mit den gefürchteten Wasserwerfern zurück in ihre Schranken zu weisen.
    Mit einem missmutigen Schnaufen stieß Leon sich von der Fensterbank ab und begab sich in die Cafeteria im Erdgeschoss. In ein paar Stunden würde die Verhandlung beginnen. Dagegen konnte er ebenso wenig unternehmen wie die Leute da draußen. Der Richter hatte nur einen kurzen Blick auf die stark vergrößerte Aufnahme geworfen und Leons Antrag auf Verhandlungsaufschub abgelehnt. Schließlich befänden sie sich nicht in einer TV-Serie, wo ein schemenhafter Umriss auf einem Foto beweiskräftig genug wäre, um Einfluss auf einen Mordprozess zu nehmen. Leon sollte ihm mehr bringen, dann würde er weitersehen. Die Anklageschrift stand und könnte nicht kurzfristig geändert werden. Er würde aber Leons Hinweis während

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