Die Totenmaske
verstärkte, bis die Knöchel an ihrer Hand weiß hervortraten.
Zoe keuchte entsetzt auf bei der Vorstellung, erneut damit geschlagen zu werden. Jeder Gedanke an Flucht löste sich in Luft auf. Schweiß brach ihr im Rücken aus.
»Bitte tun Sie mir nichts!« Ihre Stimme hörte sich ganz atemlos an, solche Angst hatte sie inzwischen.
Wortlos wies Frau Nauen mit der Rohrzange in die Richtung, in die Zoe gehen sollte.
Wie von allein setzten ihre Beine sich in Bewegung. Frau Nauen folgte ihr, das Werkzeug in der Hand wie eine Waffe. Zoe stolperte den kleinen roten Weg entlang. Ihre Gedanken rasten. Möglichst unauffällig wand sie ihre Handgelenke in der Hoffnung, ihre Fesseln würden sich lösen. Fieberhaft suchte sie nach den passenden Worten, um Frau Nauen von ihrem Vorhaben abzubringen. Gleichzeitig erkannte sie jedoch, dass dies ebenso unmöglich war, wie einen Tiger davon zu überzeugen, die Gazelle nicht zu fressen. Hätte sie doch bloß nichts gesagt, sondern einfach wortlos den Wagen der Frau in Ordnung gebracht! Anscheinend hatte Zoes Versöhnungsversuch genau das Gegenteil bewirkt und einen Schalter umgelegt, der Frau Nauens Verstand zum Erliegen gebracht hatte. Aber wahrscheinlich war ihre bloße Anwesenheit schon Grund genug, dass der Hass überkochte. Nun war es zu spät für Selbstvorwürfe.
Es dauerte einen Moment, bis Zoe das Vibrieren in ihrer Hosentasche zuordnen konnte. Erschrocken warf sie einen Blick über die Schulter. Doch Frau Nauen schien davon nichts zu bemerken, sondern wies sie mit einer herrischen Geste an, weiterzugehen. Wie gut, dass ihr Handy auf lautlos gestellt war! Ein Wunder, in dieser Einöde überhaupt Empfang zu haben. Annehmen konnte sie den Anruf trotzdem nicht, aber die Gewissheit, dass sie möglicherweise jemand vermissen und nach ihr suchen würde, war tröstlich. Vielleicht war es Leon, der etwas früher am verabredeten Treffpunkt vor dem Gerichtsgebäude auf sie wartete. Aber es würden noch Stunden vergehen, bis ihm auffallen würde, dass sie nicht erschien – wenn er sich überhaupt Sorgen machen würde. Schließlich wusste er, dass Zoes Job durchaus unvorhergesehene Termine mit sich brachte. Ein tiefes Bedauern überkam sie, gemischt mit Sehnsucht. Sie war im Begriff gewesen, sich in Leon zu verlieben, und nun war sie nicht mehr sicher, ob sie ihm das jemals würde sagen können.
Viel zu schnell erreichten sie ihr Ziel, was nicht wirklich eines war, sondern lediglich das Ende des Weges. Der Steilhang des Steinbruchs. Gegenüber erkannte sie in der Ferne die Absperrbänder der Polizei, dort, wo Boris’ Wagen abgestürzt war. Vor ihr klaffte der zackige Abgrund eines verlassenen Abbaugebietes. Von hier aus ging es nicht weiter. Zoe blieb stehen und drehte sich langsam um, in Erwartung weiterer Instruktionen. Und die kamen auch prompt.
»Spring!«
»Was?!«, keuchte Zoe und warf instinktiv einen Blick hinter sich in die Tiefe. »Ich … nein.«
Zoe musste sich bemühen, nicht hintenüber zu fallen, so sehr zitterte ihr Körper. »Bitte … bitte hören Sie auf damit! Dadurch wird Boris nicht wieder lebendig!«
Jetzt weinte sie haltlos. Tränen rannen über ihre Wangen. Gleichzeitig hielt die Panik sie fest im Griff.
»Nein, das wird er wohl nicht. Du und dein Komplize habt versucht, den Tod meines Sohnes wie einen Unfall aussehen zu lassen. Beide solltet ihr hier um euer Leben flehen, aber der Bursche sitzt im Gefängnis. Auch gut! So brauche ich mich nur noch um dich zu kümmern.«
»Es tut mir so leid, was mit Boris geschehen ist …« Ein Schluchzen erstickte Zoes Stimme. »… aber ich habe damit nichts zu tun! Bitte glauben Sie mir doch!«
»Ich glaube überhaupt nichts mehr.« Sie machte einen Schritt auf Zoe zu. Diese wich zurück. Ihr Absatz rutschte über den Abhang. Steinchen lösten sich und rieselten in die Tiefe.
»Mein Gott, bitte …«, wisperte Zoe.
»Gott hilft dir jetzt auch nicht weiter, den hat deine Mutter schon für sich gepachtet. Also, worauf wartest du noch?«
Frau Nauens Augen waren so starr, als bestünden sie aus Glas. Ihre Miene regungslos. Eiskalt.
Als Zoe begriff, dass ihr Leben kaum noch einen Pfifferling wert war, kehrte etwas von der Gefasstheit zurück, die andere Leute an ihr schätzten. Nur dass es sich wie Aufgeben anfühlte. Gleich würde sie den Abhang hinabstürzen, mit gefesselten Händen. Kaum eine Chance, den Sturz zu überleben. Sie konnte nur hoffen, schnell das Bewusstsein zu verlieren. Noch bevor sie
Weitere Kostenlose Bücher