Die Totenmaske
Diese traute Leon der schlanken Frau zu. Fragte sich nur, wann sie dort gewesen war.
Ein seltsamer Gedanke wuchs in seinem Kopf, während er Isobel Lenz betrachtete und sie sich mit offenem Haar vorzustellen versuchte. Für ihr Alter war sie eine schöne Frau, wenn auch mit einem harten Zug um die Mundwinkel. Eine vage Ähnlichkeit bestand durchaus mit der verschwommenen Abbildung – aber nur mit viel Phantasie, was natürlich kaum für einen konkreten Verdacht ausreichte. Genau genommen benahm sie sich schon eigentümlich, machte den Eindruck, in ihrer eigenen Welt zu leben. Dazu predigte sie zwar unterschwellig, aber dafür umso leidenschaftlicher von göttlich abgesegneter Selbstjustiz. Bei all ihren verqueren Ansichten schien sie über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu verfügen. Auch wenn dieser sich nicht ganz mit den modernen Vorstellungen der Gesellschaft deckte, war er dennoch tief verwurzelt und entsprang einem sicheren Instinkt. Es musste einen Weg geben, diese Eigenschaft für seine Zwecke zu nutzen. Offensichtliche Ungerechtigkeit würde die apostolische Predigerin nicht wortlos dulden. Leon kam eine Idee.
»Einen Moment noch, bitte!« Er holte sie mit wenigen Schritten ein. »Da Zoe nicht zu sprechen ist, können Sie mir möglicherweise weiterhelfen.«
Isobel blieb stehen, nicht ohne missmutig zu schnauben.
Leon zog das Foto mit der schemenhaften Gestalt aus seiner Jackentasche und hielt es ihr hin. »Können Sie mir sagen, um welche Person es sich auf der Aufnahme handelt?«
Isobels Blick huschte mit flatternden Lidern über das Foto und sofort zu Leon zurück.
»Nein, darauf kann ich nichts erkennen.« Sie deutete mit einer abfälligen Handbewegung auf die Aufnahme.
»Es handelt sich um ein Bild vom Tatort. Ein bisschen schwer zu erkennen, doch bei genauerer Betrachtung sieht man dort eine Frau hinter den Blättern stehen. Sehen Sie?« Leon zeigte mit dem Finger auf die Gestalt, um ihr zu verdeutlichen, was er meinte. »Zumindest lässt das geblümte Kleid darauf schließen.«
Doch Isobel dachte offensichtlich nicht daran, einen weiteren Blick auf das Foto zu werfen. Außer einer Steilfalte über ihrer Nasenwurzel zeigte ihre Miene keine Regung.
»Ich pflege mich nicht derart zu kleiden.« Beiläufig schob sie die gelöste Strähne zurück in ihren Haarknoten. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen? Ich habe noch zu tun!«
Wieder ließ die Frau ihn stehen und entfernte sich mit hastigen Schritten. Er hielt sie nicht auf, hätte aber einiges darum gegeben, Isobels Gedanken lesen zu können. Ihre Beherrschung war zweifellos eindrucksvoll, vielleicht sogar ein bisschen zu diszipliniert.
Geblendet grub Zoe ihr Gesicht in die Filzbeschichtung des Kofferraums. Das schwache Tageslicht des heraufkommenden Morgens war zu viel für ihre geschwollenen Augen. Es dauerte eine Weile, bis sie vorsichtig blinzeln konnte. Währenddessen starrte Frau Nauen mit genervter Miene auf sie herab, als wäre sie ein kleines Kind, das sich weigerte, zu schlafen. Schlafen war in Zoes Fall wohl etwas zu wörtlich gemeint.
»Du lebst also noch«, stellte sie fest. »Steig aus!«
Sofort war Zoes Fluchtinstinkt geweckt. Nichts hätte sie lieber getan, als aus der muffigen Enge zu springen und so schnell wegzulaufen, wie sie konnte. Doch mit auf den Rücken gebundenen Armen war es kaum möglich, überhaupt erst einmal aus einem Kofferraum zu klettern. Umständlich richtete sie sich auf. Wieder überkam sie eine Welle der Übelkeit. Sie musste eine Gehirnerschütterung haben. Auf halber Strecke drohten ihre Kräfte, zu schwinden. Sie sackte mit der Schulter gegen den Kofferraumrand, versuchte, ein Bein darüberzuschwingen. Jeder Muskel in ihrem Körper schien aus weichem Kautschuk zu bestehen.
Frau Nauen schnaufte undamenhaft. »War zu erwarten, dass du wieder Ärger machst!«
Unerwartet kraftvoll packte sie Zoe unter den Achseln, hievte sie aus dem Kofferraum und ließ sie wie einen nassen Sack auf den Boden fallen.
Als Zoes Blutzirkulation in den Beinen plötzlich wieder einsetzte, knickte sie ein. Sie kniete im Dreck mit auf dem Rücken verschnürten Armen, den Oberkörper vornübergebeugt wie ein Exekutionsopfer. Ihr wurde schwarz vor Augen, die Übelkeit ließ sich nicht mehr zurückdrängen. Sie übergab sich mit unterdrückten Würgelauten, die ihr die Tränen in die Augen trieben. Erbrochenes quoll durch die kleinsten Winkel ihres Knebels, floss durch ihre Nase und zurück in die Speiseröhre.
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