Die Totenmaske
bis ihr Handy erneut Kontakt zum Satelliten aufgebaut hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es Zoe, die Senden- Taste zu drücken.
»Bitte, lieber Gott, lass die Nachricht rausgehen!« Erschöpft sank ihr Kopf auf die Schulter. Alles war so anstrengend. Die Augen fielen ihr zu. Was sollte sie auch sonst tun, außer schlafen?
»Ruhe im Gerichtssaal!« Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Sockel.
Das Raunen der Zuschauer ebbte sofort zu einem unterschwelligen Gemurmel ab. Die Befragungen der Zeugen und des Angeklagten stellten erst die Vorbereitung zum eigentlichen Prozess dar. Doch schon während der Staatsanwalt die Anklageschrift vorgelesen hatte, verstärkte sich Leons Eindruck, sich inmitten eines Kampfschauplatzes zu befinden. Spannung flirrte in der Luft, lud die Atmosphäre mit einer explosiven Mischung aus Vernunft und Hass, aus Sachverstand und eifernder Blindheit. Ständige Zwischenrufe aus den Besucherreihen verhinderten einen reibungslosen Ablauf. Wenn das so weiterging, würde der Richter für die Folgetage die Öffentlichkeit ausschließen. Vielleicht wäre das besser.
Im Innern des Gerichtsgebäudes bekamen sie nicht viel von dem Lärm draußen mit. Die hohen Rundfenster hinter dem Richterpodest waren mit geräuschdämmendem Sicherheitsglas ausgestattet. Doch Leon ahnte, wie seine Kollegen sich abmühten, unter den Demonstranten für Ruhe zu sorgen.
Josh schilderte gerade mit hochrotem Kopf die Gründe, weshalb er sich am Tatort aufgehalten hatte. Gemäß dem Mündlichkeitsprinzip stand es auch dem Angeklagten zu, zusammenhängend über seine Erlebnisse zu berichten. Dabei sollte ihn zunächst niemand mit Fragen unterbrechen.
»Ich habe niemanden umgebracht. Echt nicht!«, beteuerte Josh zum Schluss. »So was könnte ich nie tun.«
Sein Blick schoss unruhig durch den Saal, er schien aber nicht wirklich zu sehen. Wie ein Bühnenschauspieler, der geblendet von Scheinwerfern nicht wahrnahm, wie das Publikum ihn beäugte. Zwischendurch ein flehender Blick zum Richter. Da saß kein erwachsener Mann, sondern ein verstörter kleiner Junge mit wirrem Haar, mit dem der Staatanwalt in Anbetracht der Schwere der Tat nicht zimperlich umspringen würde. Tatsächlich postierte dieser sich mit raschelnder Robe vor der Angeklagtenbank.
»Entnehme ich es richtig, dass Sie den Leichnam Ihres Vaters aufbewahrt und auf unverantwortlich laienhafte Weise zu mumifizieren versucht haben?«
Josh klappte die Kinnlade herunter.
»Einspruch!«, rief der Verteidiger. »Für den vorliegenden Fall ist der angesprochene Sachverhalt irrelevant.«
»Einspruch stattgegeben.«
Erneut richtete der Staatsanwalt das Wort an Josh. »Was genau haben Sie gemacht, während Sie dort im Gebüsch hockten?«
»Nichts Besonderes.« Joshs Ohren hoben sich nun dunkel von seiner blassen Gesichtsfarbe ab.
»Etwas konkreter, wenn ich bitten darf!«
»Fotos gemacht …« Josh stockte und senkte den Blick. »Ich habe fotografiert und einen neuen Film eingelegt.«
Der Staatsanwalt blätterte in seinen Unterlagen. »Und was haben Sie fotografiert?«
»Blätter und Insekten. Alles Mögliche eben, was mir so vor die Linse kam.«
»Wie nackte Mädchenhaut zum Beispiel?«
»Einspruch!«
Ein weiteres Raunen ging durch den Zuschauerraum, das erneut vom Richter niedergehämmert werden musste. Leon stieß den Atem aus. Das führte doch zu nichts, wenn man versuchte, den Jungen mit vergleichsweise geringfügigen Delikten zu einem Geständnis zu bewegen! Natürlich lagen dem Gericht die Informationen über die Fotos von Zoe vor, doch solange sie keine Anzeige erstattete, was sie seines Wissens nicht vorhatte, waren diese Einwürfe für den laufenden Prozess belanglos.
Unwillkürlich glitt sein Blick zu dem leeren Platz neben ihm. Er hatte ihn für Zoe freigehalten und sich bewusst in eine der hinteren Reihen gesetzt. Von hier aus hatte er einen guten Überblick und konnte gleichzeitig die Tür im Auge behalten. Diese öffnete sich gerade mit einem verhaltenen Knarren. Sofort wandte Leon sich erwartungsvoll um, doch statt Zoe huschte eine verspätete Frau Nauen in den Saal. Es sah ihr gar nicht ähnlich, zum Mordprozess des eigenen Sohnes zu spät zu kommen. Sie suchte die Besucherreihen nach ihrem Mann ab, während sie durch den Mittelgang spazierte. Herr Nauen winkte ihr mit gerunzelter Stirn zu. Scheinbar verstimmte ihn die fast zweistündige Verspätung seiner Gattin. Diese rutschte sogleich auf ihren Platz im nebenan liegenden
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