Die Totenmaske
Ihre Welt hüllte sich in den Gestank von gegorenen Nahrungsresten. Sie fühlte sich erbärmlich, und als ob das nicht gereicht hätte, verschluckte sie sich auch noch. Reflexartig hustete sie, weil sie glaubte, ersticken zu müssen. Panik erfasste sie wie eiserne Griffe.
»Herrje, das ist ja widerwärtig!«, echauffierte sich die Dame in Chanel.
Anscheinend beschloss sie, dass dies nicht die vorgesehene Todesart für ihre Geisel darstellte. Mit einem missmutigen Aufstöhnen beugte sie sich vor und löste die Verschnürung des Knebels an Zoes Hinterkopf.
Die Erleichterung war überwältigend. Zoe spuckte ihren Mund frei, um endlich einen tiefen Atemzug frischer Luft zu nehmen. Der Schwindel zog wie ein grauer Schleier davon. Ihr Kopf klarte sich langsam auf. Sie wagte einen unauffälligen Blick an Frau Nauens gebräunten Beinen vorbei, um sich zu orientieren. Weiter hinten lichtete sich der Wald. Ein kleiner Weg schlängelte sich durch die immer spärlicher werdende Vegetation. Der sattbraune Boden wechselte in trockenen, rötlich schimmernden Sand. Eiskalte Schauer zogen über Zoes Rücken. Der Steinbruch. Der Ort, an dem Boris umgekommen war. Nur befanden sie sich auf der anderen Seite, die man nicht mit dem Auto befahren konnte. Plötzlich wurde ihr klar, dass Frau Nauens Hass auf sie in kranke Rachegelüste umgeschlagen war. In ihren Augen sollte Zoe auf der Anklagebank sitzen und für den Mord an ihrem Sohn büßen.
Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg, während sie ihre Peinigerin im Auge behielt. Diese war gerade damit beschäftigt, eine geglättete blonde Haarsträhne in die Bananenspange zurückzuschieben. Im Gegensatz zu Zoe hatte die Nacht im Auto bei ihr keine Spuren hinterlassen. Wie aus dem Ei gepellt stand die Dame aus gehobenen Kreisen in der aufgehenden Sonne, als hätte sie sich zu einem vergnüglichen Ausflug eingefunden. Das Ganze kam Zoe vor, als wäre sie im falschen Film.
»Los, steh auf, und komm! Ich habe nicht ewig Zeit!«, herrschte Frau Nauen sie an und deutete in Richtung Steinbruch.
Zoe rutschte näher an den Pkw, um sich mit dem Rücken am Kotflügel abzustützen, während sie versuchte, sich hochzuschieben. Sofort brach ihr der Schweiß aus, doch es gelang ihr, sich aufzurichten. Mit weichen Knien stützte sie sich gegen das Auto und bemühte sich, zu Atem zu kommen. Ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen.
»Was wollen Sie denn bloß von mir? Ich habe nichts verbrochen!«, brachte Zoe verzweifelt hervor.
Zorn flammte in Frau Nauens Augen auf. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und beugte sich mit hasserfüllter Miene vor.
»Aber natürlich nicht! Du hast ja nie etwas getan. Bist völlig unschuldig, du armes Mädchen! Es waren immer die anderen.«
Die Worte flogen Zoe nur so um die Ohren. Fassungslos starrte sie die Frau an. »Aber ich …«
»Ich, ich, ich«, äffte Frau Nauen sie nach. Ihre Stimme wurde immer lauter. Die Adern traten an ihrem Hals hervor, so dass die Perlenkette in Bewegung geriet. »Verdammte Göre! Schnüffelst mit diesem Polizisten herum, als sei das Recht auf deiner Seite. Was maßt du dir noch alles an?«
Sie holte aus und schlug Zoe völlig unerwartet ins Gesicht.
Zoes Kopf wurde von der Wucht zur Seite gerissen. Ihre Wange brannte wie Feuer. Blut tropfte aus ihrer Nase in den Sand vor ihren Füßen. Vollkommen schockiert, wusste Zoe eine Weile nicht, wie ihr geschah.
Frau Nauen stolzierte vor ihr her, als gäbe sie eine Vorstellung vor Publikum. »Aber was will man machen, wenn man es nur mit unfähigen Leuten zu tun hat?«, mokierte sie sich und starrte Zoe an, als erwartete sie eine Antwort, redete aber sofort weiter. »Anstatt einen erfahreneren Beamten zu schicken. Der wäre dir nicht auf den Leim gegangen mit deinem Lolita-Gehabe. Jetzt wickelst du den jungen Mann ebenso ein wie damals meinen Sohn! Nutzt seine Unerfahrenheit und wirst ihn ebenso vernichten. Hinterhältiges Ding! Nun werde ich endlich dafür sorgen, dass du bekommst, was du verdienst!«
Wenn Zoe je geglaubt hatte, Boris wäre ein Soziopath gewesen, dann hatte sie seine Mutter unterschätzt. Das absichtlich affektierte Gehabe erzeugte in Zoe einen hilflosen Zorn.
»Sie können mich nicht einfach gefangen halten! Damit ändern Sie doch nichts!«, versuchte sie, Frau Nauen ins Gewissen zu reden.
»Halt deinen Mund, und setz dich in Bewegung, oder soll ich noch deutlicher werden?«
Die Rohrzange gab ein leises metallenes Klappern von sich, als sie ihren Griff darum
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