Die Totenmaske
Kolleginnen seinen besonderen Blick sexy finden und ihn hinter vorgehaltener Hand als »Everybody’s Darling« bezeichnen. Es hatte einige Drinks und Besuche in schnulzigen Kinofilmen gebraucht, bis Leon sein Selbstmitleid überwunden und sich damit abgefunden hatte, nicht jede Hürde problemlos meistern zu können. Seiner erfolgsverwöhnten Einstellung wurde vom Schicksal ein kleiner Dämpfer verpasst. Damit musste er leben und versuchen, sich umzuorientieren.
Nützlich, wenn auch nicht besonders angenehm war sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen. Egal, wie grauenvoll ein Toter zugerichtet worden war, solange es nur auf dem Papier stattfand, konnte er den Fall uneingeschränkt sachlich betrachten. Umso extremer reagierte er am Tatort, wenn ein toter Körper in seiner Dreidimensionalität vor ihm lag. Es war etwas völlig anderes, eine Schussverletzung auf dem Foto zu sehen, als die aufgesprungenen Wundränder um den verbrannten Krater eines Kopfschusses an dem realen Toten zu betrachten. Der Anblick ließ Leons Wirbelsäule vibrieren, als sendete sie Signale zu den jeweiligen Körperteilen aus, um ihm einen Eindruck von dem zu vermitteln, was das Opfer zuvor verspürt hatte. Diese intensiven Empfindungen erzeugten in Leon den unbeschreiblichen Drang, alles daranzusetzen, die Mörder zu überführen.
Zu Beginn seiner Ausbildung hatte Leon diese Gefühle noch nicht richtig einordnen können – zumindest bis zu dem Tag, als er die erste Wasserleiche zu Gesicht bekam. Allein der Anblick des aufgedunsenen, mit einer seifenartigen Substanz überzogenen Körpers ließ damals die meisten der anwesenden Beamtenanwärter mehr oder weniger heftig reagieren. Die Schadenfreude der Ausbilder ließ beinahe vermuten, sie hätten die Neulinge absichtlich dieser Situation ausgesetzt. Wasserleichen verwesten im Schneckentempo, aber wenigstens war der Gestank auszuhalten. Den meisten Beamten war es zu Beginn ihrer Karriere ähnlich ergangen, und viele hatten es nicht vergessen. Doch Leon hatte sich damals nicht übergeben, sondern war auf der Stelle von einem Tatendrang erfüllt gewesen, der wie elektrische Impulse durch seine Muskeln jagte und ihn anspornte wie der Startschuss einen Sprinter. Ein intensives Praktikum in der Rechtsmedizin hatte ihm dabei geholfen, diesen Motor, wie er sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen nannte, in den Griff zu bekommen.
Seither war er damit beschäftigt, sich über seinen weiteren Werdegang Gedanken zu machen. Bislang hatte sich noch nichts Passendes ergeben, obwohl es nicht an Angeboten mangelte. Doch mittlerweile schien er nach und nach zu stagnieren. Er war rein gefühlsmäßig noch nicht an dem Punkt angekommen, an dem er sich einredete, dass ihm nicht mehr jede Menge Möglichkeiten offenstanden. Zu hinterfragen, ob seine Ansprüche an sich selbst möglicherweise zu hoch waren, hielt er nicht für notwendig. Immerhin hatte er seinen Ehrgeiz nicht verloren. Doch mittlerweile drohte ihn der Alltag einzuholen, wenn er weiterhin zögerte. Er wurde langsam bequem. Fester Job, geregeltes Einkommen, nette Wohnung. Und was sonst? Es lag nahe, sich als Nächstes um sein Privatleben zu kümmern. Damit hätte er schon die Ziele erreicht, die für die meisten seiner Kollegen erstrebenswert waren. Doch der Gedanke, sich auch nur annähernd mit Familienplanung zu beschäftigen, behagte ihm nicht.
Leon hatte nicht vor, zu rekapitulieren und mit vierzig ausgebrannt wie einige seiner Kollegen im Büro vor sich hin zu dümpeln. Sein Job bestand darin, Verbrechen aufzuklären und Monster wie den Mörder dieses Mädchens auf der Leinwand dingfest zu machen. Doch ständig kamen ihm und seinen Kollegen die langsam mahlenden Mühlen der deutschen Bürokratie ins Gehege. Gleichzeitig häuften sich die Fälle, was für die Landeshauptstadt Mainz nicht ungewöhnlich war. Doch Leon bekam manchmal das Gefühl, ausschließlich damit beschäftigt zu sein, einen Tatort nach dem anderen zu sichern und spätestens bei der Übergabe an die Spurensicherung schon wieder zum nächsten Fall unterwegs zu sein. Er fühlte sich ständig gehetzt, so, als würde er tausend Dinge anfangen und nichts zu Ende bringen. Von der gelassenen Souveränität seines Chefs war er weit entfernt. Seine Motivation war immer noch genauso groß wie während seines gesamten Studiums. Doch nach knapp zwei Dienstjahren hatte sich nichts weiter geändert. Solange sich für ihn keine Gelegenheit bot, sich zu beweisen, würde er in den Augen seiner
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