Die Totenmaske
und sie ihm auf die Stirn tackern.«
Mit einem festen Ruck am Reißverschluss entzog Zoe Boris’ zerstörtes Gesicht weiteren hämischen Bemerkungen.
»Krieg dich wieder ein! Er ist tot. Eine Steigerung gibt es nicht. Ich finde nicht, dass dein Hass noch angebracht ist.«
»Ach, findest du?« Josh steuerte auf den nächsten Leichensack zu.
»Was auch immer er dir getan hat, steht doch in keiner Relation mehr zu dem da.« Zoe deutete anklagend mit dem Finger auf den Leichensack.
»Wer redet denn von dem, was er mir angetan hat?«, gab Josh aufgebracht zurück, schaffte es aber nicht, Zoes ernstem Blick standzuhalten.
Natürlich. Josh glaubte, für sie einstehen zu müssen. Betroffen machte Zoe sich daran, ihre Instrumente wegzuräumen. Manchmal verursachte die Ergebenheit ihres Freundes ihr ein unbehagliches Gefühl. Sie brauchte niemanden, der für sie wütend oder traurig war. Sie kam schon allein klar. Josh spürte anscheinend den Stimmungsumschwung und versuchte kleinlaut, das Thema zu wechseln.
»Was ist mit den anderen?«
Zoe zauderte. Vielleicht sollte sie Josh zurechtweisen, ihm seine Grenzen aufzeigen. Wenn sie nicht aufpasste, neigte der Junge dazu, in ihre Privatsphäre einzudringen. Dazu war sie nicht immer aufgelegt. Genau genommen war sie das nie. Sie haderte nicht selten mit der schicksalhaften Fügung, von Josh in ihrem peinlichsten Moment gesehen worden zu sein, in dem sie sich unbeschreiblich verletzbar und hilflos gefühlt hatte. Es war unvermeidlich gewesen, sonst hätte Josh sie damals nicht vor Boris und dessen Freunden retten können. Mit Sicherheit stellte das so unerträglich mehr an Intimität dar, als ein Mensch bereit war, vor einem anderen zu entblößen.
Josh schob mit dem Daumen seine Brille in die richtige Stellung. Dabei wirkte er so unsicher wie ein kleiner Junge. Zuneigung wallte in Zoe auf. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn vor den Kopf zu stoßen. Außerdem wusste sie wie üblich nicht, wie sie ihm klarmachen sollte, dass seine Nähe ihr manchmal zu viel wurde. Also beschloss sie, auf seinen Themawechsel einzugehen.
»Um die kümmere ich mich morgen. Den Unterlagen zufolge habe ich es mit ein paar abgetrennten Gliedmaßen zu tun.«
Sie zuckte mit den Achseln, um zu verdeutlichen, dass ihr die bevorstehende Arbeit an Boris’ Kumpeln keine Schwierigkeiten bereiten würde. Zunächst stand ihr noch eine Konfrontation mit ihrer Mutter bevor, die ihr allein bei dem Gedanken daran Magenschmerzen verursachte. Isobel dürfte nicht begeistert von dem Auftrag sein, eine rührige Grabrede für den Sittenstrolch zu halten, der ihre Tochter ins Unglück gestürzt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Mutter ihren gepriesenen Glauben an die Vergebung aller Sünden in den Vordergrund stellte. Allerdings hegte Zoe daran ihre Zweifel.
»Trotzdem wüsste ich zu gern, was passiert ist. Hast du den Polizeibericht gelesen?«, plapperte Josh weiter.
Zoe drehte sich auf der Treppe um. »Warum sollte ich? Ich bekomme einen Autopsiebericht, mehr nicht. Wenn du mehr über den Unfall erfahren willst, musst du schon warten, was in der Zeitung steht.«
»Ich fahre auf jeden Fall zum Steinbruch. Das muss ich mir angucken.« Josh hielt erwartungsvoll inne.
Er glaubte doch nicht allen Ernstes, dass sie in Erwägung zog, ihn zu begleiten? Kopfschüttelnd ging Zoe weiter. Er benahm sich wie ein Schaulustiger am Unfallort. Seltsam, welche Auswirkungen schreckliche Ereignisse auf die Menschen hatten. Scheinbar ohne Vorwarnung mutierten völlig normale Dorfbewohner zu sozial minderbemittelten Gaffern. Je mehr Unbeteiligte sich einfanden, desto stärker wurde der innere Reflex, zu helfen, gelähmt. Zoe konnte sich vorstellen, dass Josh nicht der Einzige mit einem plötzlichen Interesse an dem einsam gelegenen Steinbruch sein würde.
Selten zog es Touristen dorthin, obwohl die rötlich gefärbte Erde durchaus spektakulär wirkte, wenn die Abendsonne schräg über die Baumwipfel einfiel. Verantwortlich für dieses Phänomen war das kilometerweit entfernte historische Kupferbergwerk in Fischbach, welches einen weitaus interessanteren Anziehungspunkt für Reisende bot. Der einstige Kupferbestand hatte den Boden weitläufig mit Restbeständen des Edelmetalls gesättigt, bis in den Hunsrücker Steinbruch. Dennoch dürfte es eher der Unfall sein, der höchstwahrscheinlich den einen oder anderen Spaziergänger zum Ort des Geschehens lockte. In einem Dorf wie Birkheim passierte nicht viel, so dass die
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