Die Totenmaske
Kollegen ein ewiger Berufsanfänger bleiben.
Auch wenn er immer wieder ausgebremst wurde, weigerte er sich, sein Berufsethos aufzugeben. Er war Polizist und wollte auch wie einer handeln.
Dabei hätte dieses neuartige Verfahren, womit sich ein DNA-Gemisch entwirren ließ, möglicherweise zur Lösung einiger Fälle beigetragen. Doch dafür stand kein Geld zur Verfügung. Zu unerforscht wäre das Verfahren, hieß es. Leon fuhr sich mit einem leisen Seufzen durch die Haare. Er lehnte sich im Stuhl zurück, um seine langen Beine unter dem Tisch auszustrecken. Sein Blick fiel durch das Fenster an der gegenüberliegenden Wand. Strahlend blauer Himmel zog sich über die Bonifazius-Türme, die Twin Towers von Mainz am Hauptbahnhof. Die beiden Hochhäuser mit spiegelnden Fassaden gaben sich einen spielerischen Wechsel mit dem historischen Gebäude des Hauptbahnhofs und seiner mit kunstvollen Reliefs geschmückten Fassade. Alles sah so friedlich aus. Eine Utopie, deren Realität sich in Dreck und Gewalt auf den Straßen mancher Stadtviertel darbot.
Wie der Besprechungsraum des Polizeipräsidiums lag Leons Apartment im siebten Stock eines Stadthauses mit einer ähnlichen Aussicht, für die sein Vater mal eben ein paar Tausender mehr bezahlt hatte. Sollte wohl als Entspannungsfaktor dienen, funktionierte aber nicht wirklich. Allerdings kam Leon in der letzten Zeit nur zum Duschen und Schlafen nach Hause. Seine Küche war noch ebenso unbenutzt wie am Tag seines Einzugs – abgesehen von dem silberglänzenden Exemplar einer Portionskaffeemaschine. Eine der genialsten Erfindungen dieser Zeit.
Bewegung kam unter den Anwesenden auf, als sie sich in ihren ergonomischen Stühlen neu positionierten. Hauptkommissar Willi Neumann war im Begriff, zum letzten Tagungspunkt überzugehen. Leon konnte nicht leugnen, dem nahenden Ende der Tagung mit einer gewissen Erleichterung entgegenzusehen. Der runde Verhandlungstisch sollte Demokratie symbolisieren, doch wenn es darauf ankam, fokussierte sich die Aufmerksamkeit letztlich auf eine befehlsbefugte Person. So ähnlich musste es bei den Rittern an König Artus’ Tafelrunde zugegangen sein.
Die Blicke der sechs Soko-Mitglieder richteten sich auf ihren Vorgesetzten. Hauptkommissar Neumann räusperte sich vernehmlich, während er mit einer Hand durch sein graumeliertes Haar fuhr. Er betrachtete eingehend sein Notepad, über das er alle notwendigen Informationen aus dem Zentralcomputer beziehen konnte.
Leon kannte diesen Gesichtsausdruck bei seinem Mentor Willi, mit dem ihn auch ein freundschaftliches Verhältnis verband. Die tiefe Falte über seiner Nasenwurzel deutete darauf hin, dass er sich sammelte, um eine Entscheidung zu verkünden, die einigen am Tisch nicht gefallen würde.
Eine unbehagliche Anspannung überkam Leon. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und bemerkte die Genugtuung im Blick seines Kollegen Georg. Leons Vorstöße, Fälle immer wieder erneut zu untersuchen, obwohl sie bereits dazu verurteilt waren, als Aktenleichen zu enden, waren Georg stets ein Dorn im Auge. Allein die damit verbundene Schreibarbeit ließ ihn genervt aufstöhnen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wären die meisten Fälle aus dem Milieu aufgrund mangelnder Priorität noch schneller abgeschlossen worden – gelöst oder ungelöst. Anderseits schien er stets das Gefühl zu haben, mit Leon konkurrieren zu müssen, als sähe er eine Gefahr in seinem jüngeren Kollegen. Erschwerend kam hinzu, dass ihre Meinungen grundsätzlich kontrovers waren, bereits seit Leon zu der Soko gestoßen war. Anfangs war er irritiert wegen der unterschwelligen Ablehnung seines älteren Kollegen gewesen. Er war doch niemand, der an anderer Leute Stühlen sägen wollte. Vielmehr betrachtete Leon sich als Anfänger, den Kopf voll mit theoretischem Wissen, das nun in die Praxis umgesetzt werden wollte. Von den erfahrenen Kollegen konnte er nur lernen. Allerdings hatte sich schon nach kurzer Zeit gezeigt, dass Leons Fähigkeiten als Beamter der Kriminalpolizei weit über die leicht angestaubten Vorstellungen seiner Kollegen hinausgingen. Abgesehen von Willi Neumann, den Leon wie eine Vaterfigur aufrichtig bewunderte.
Leon deutete aus Georgs selbstgefälliger Miene, dass der Hauptkommissar gleich seine Entscheidung mitteilen würde, auch diesen Fall aufgrund von Mangel an Beweisen als ungelöst abzuschließen. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und richtete seine Aufmerksamkeit auf Willi. Ein aufgeregtes Flattern machte
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