Die Totenmaske
Menschen eher geneigt waren, sich der unbewussten Suche nach Abwechslung hinzugeben.
In Zoes Leben gab es genug interessante Ereignisse. Sie konnte wenig mit dem Drang anfangen, sich einen persönlichen Kick zu verschaffen, indem man schaulustig Orte des Schreckens aufsuchte. Zumal die Resultate solcher Taten für gewöhnlich ohnehin auf ihrem Behandlungstisch landeten.
»Weißt du, was viel spannender ist?« Zoe war in der Halle angekommen und begleitete Josh zur Tür. »Wie meine Mutter gleich austicken wird, wenn ich ihr erzähle, wen ich da unten liegen habe.«
Grinsend drehte Josh sich zu ihr um. Die flegelhafte Schadenfreude stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er war oft genug Zeuge gewesen, wenn Zoe mit ihrer Mutter aneinandergeriet. Da Isobel es vorzog, ihn wie Luft zu behandeln, hatte sie in der Vergangenheit nicht davor zurückgeschreckt, Zoe mit ihren peinlichen Auftritten zu blamieren. Doch ehe er etwas erwidern konnte, klappte sein Mund geräuschvoll zu. Seine Augen wurden tellergroß, während sein Blick über Zoes Schulter glitt, als stünde ein Geist hinter ihr.
»Was ist?«, zischte Zoe ungehalten, doch ein unheilverkündendes Kribbeln entlang ihrer Wirbelsäule gab ihr bereits die Antwort.
»Dann solltest du deine Mutter nicht länger auf die Folter spannen!«, kam es schneidend vom anderen Ende der Halle.
Damit waren sämtliche Pläne, ihrer Mutter möglichst schonend beizubringen, dass im Kühlhaus die Leichen der von ihr meistgehassten Raufbolde lagen, mit einem Schlag vom Tisch gewischt.
Ein Stoßseufzer ließ die Anspannung aus Zoes Schultern entweichen wie Luft aus einem kaputten Ballon. Langsam drehte sie sich um, versuchte, sich für das nahende Donnerwetter zu wappnen. Bruchstücke von möglichen Erklärungsversuchen wirbelten in unzusammenhängenden Schnipseln durch ihren Kopf. Isobel trat hinter einem mannshohen Blumenarrangement in einer Bodenvase hervor, ein paar Gladiolen mit baumelnden Köpfen in der Hand. Ihre Miene war völlig ausdruckslos.
»Äh … ich glaube, ich gehe dann mal«, verkündete Josh und huschte schon durch die Tür hinaus.
Isobel sah ihm missmutig hinterher. Hinter ihm krachte die Tür ins Schloss wie eine Grabplatte. Isobels Blick schoss zu Zoe zurück.
»Nun? Was gibt es denn Spannendes zu berichten?«
Kapitel 5
L eon Strater hob seine Hand von der glänzenden Tischplatte und beobachtete, wie die Flecken, die seine schwitzenden Finger dort hinterlassen hatten, langsam wieder verdunsteten. Bereits seit Stunden tagte die Sonderkommission Mainz am runden Tisch im Besprechungsraum. Die Leinwand vor ihm zeigte die Bilder des letzten Tatorts. Das reinste Chaos zwischen Absperrungen der Spurensicherung. Es handelte sich bereits um den vierten Mordfall in den berüchtigten Kreisen der Mainzer Drogenszene. Jedes Mal war das Opfer eine junge Frau gewesen. Wieder zeigten sich in der peinlich genauen Untersuchung von Kleiderfusseln, Haaren und Kleinstpartikeln wie Hautschuppen Hinweise auf mehrere Personen, die sich zum Tatzeitpunkt in der völlig verwüsteten Wohnung aufgehalten haben mussten. Die Gerichtsmedizin beschäftigte sich derweilen mit der Analyse, um die DNA, den unverwechselbaren genetischen Fingerabdruck des Täters, zu ermitteln. Doch Leon ahnte bereits, was die Untersuchung ergeben würde. Es war für die Rechtsmediziner unmöglich, aus einem DNA-Gemisch einzelne Spuren zu dechiffrieren. Letztlich würde kein Täter eindeutig bestimmt werden können, und der Fall bliebe ungelöst wie die drei vorangegangenen.
Es war zermürbend, ständig mitansehen zu müssen, wie Verbrecher ungestraft davonkamen. Als Kriminalbeamter kam Leon sich mitunter vor wie Don Quichotte im Kampf gegen Windmühlen. Manchmal konnte er kaum glauben, dass sein ausgezeichneter Start in eine vielversprechende Karriere erst zwei Jahre zurücklag. Die Arbeit in der Soko Mainz hatte zunächst lediglich eine Durchgangsstation sein sollen, denn aufgrund seiner überdurchschnittlichen Prüfungsergebnisse standen ihm zahlreiche berufliche Entwicklungsmöglichkeiten offen. Gegen eine Karriere als Agent beim Bundesnachrichtendienst war zunächst nichts einzuwenden gewesen, wäre da nicht Leons Augenmuskelgleichgewichtsstörung. Ein hochtrabender Ausdruck für ein profanes Defizit, welches allgemein schlicht Schielen genannt wurde. Leon wies nicht mehr als einen leichten Silberblick ohne merkliche Einschränkungen auf, dennoch wich er damit vom Ideal ab. Da konnten noch so viele
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