Die Totenmaske
sich zur Ordnung. »Reiß dich zusammen!« Völlig egal, wen sie vor sich hatte: Eine Leiche war eine Leiche. Nicht mehr und nicht weniger. Sie überschritt eine unsichtbare Barriere, sobald jemand auf ihrem Tisch lag, und bemühte sich, auf Abstand zu gehen. Schließlich hatte sie sogar dabei geholfen, ihren Vater zu behandeln, ohne von Gefühlsduseleien eingeholt zu werden. Dafür hatte man später immer noch Zeit. Zunächst galt es, die hygienische Leichenversorgung präzise und mit voller Konzentration durchzuführen. Und hier erwartete sie eine Menge Arbeit. Boris’ Gesicht kam unter der Plane zum Vorschein – oder das, was davon unter den grünlich verfärbten Blutergüssen übrig geblieben war. Zoe stieß ein leises Schnaufen aus.
»Verflixt noch mal, sogar beim Sterben musstest du übertreiben!«
Über den Leichnam gebeugt, begutachtete Zoe die Verletzungen aus der Nähe. Kaum getrocknete Blutspuren. Wahrscheinlich hatte einer der Pathologen Mitgefühl gehabt und den Kopf gesäubert. Für gewöhnlich lag deren Augenmerk auf dem Öffnen des Brustkorbes, um die inneren Organe zu untersuchen. Der T-Schnitt mündete als wulstige Naht an Boris’ Schlüsselbein. Mit den Fingerspitzen tastete sie die eingedrückte Schädeldecke im Bereich der rechten Schläfe ab und überlegte, wie sie das wieder in Ordnung bringen konnte. Wahrscheinlich würde ihr Spezialwachs zum Einsatz kommen, um die lädierten Stellen aufzufüllen. Die Nase musste sie neu modellieren, da sie durch den Aufprall zu stark in Mitleidenschaft gezogen worden war. Das Ergebnis war ein völlig deformierter Hautlappen inmitten angeschwollener Wangen. Zoe schob ihren Finger zwischen die Lippen des Toten, um zu kontrollieren, ob sein Gebiss intakt war. Obwohl der Kiefer ausgerenkt und unnatürlich zur Seite gebogen war, wiesen Lippen und Kiefer keine sichtbaren Verletzungen auf. Damit wäre der Mundbereich verschont geblieben. Auch wenn Tote stumm waren, erzählten sie dennoch ihre Geschichte. Sie sprachen mit ihren Wunden, den Zeichen ihrer Verwesung, mit all den Spuren, die ihr Sterben und ihr Tod an ihnen hinterlassen hatten.
Ein Knacken in der Sprechanlage lenkte Zoes Aufmerksamkeit ab.
»Dieser Junge ist hier oben«, verkündete Isobel säuerlich.
Es konnte sich nur um Josh handeln, außer ihm kam für gewöhnlich niemand zu Besuch. Ein Bestattungsunternehmen eignete sich eben nicht als Treffpunkt. Doch selbst ihn empfand Mutter als lästigen Störenfried und machte wie üblich keinen Hehl daraus. Zoe zog den Mundschutz unter ihr Kinn und begab sich zur Sprechanlage.
»Dann schick diesen Jungen doch einfach herunter!« Ohne eine Antwort abzuwarten, wendete sie sich wieder ab.
Wenige Augenblicke später stürmte ein völlig aufgelöster Josh in den Behandlungsraum. »Hast du schon von dem Unfall gehört?«
»Sieht fast so aus.« Zoe schaute von Josh zu dem Körper vor ihr.
Josh ächzte neben ihr. »Hammerhart – da liegt ja der Bastard!« Sein Blick schweifte zu den anderen Rollliegen. »Und seine Kumpel hat er auch mitgebracht. Geschieht ihnen recht!«
»Josh! Ein bisschen Respekt gegenüber den Toten!« Zoe konnte es nicht leiden, wenn über jemanden schlecht geredet wurde, der sich nicht mehr wehren konnte.
»Pah, nur weil sie tot sind, werden sie nicht zu besseren Menschen!«, erwiderte Josh wütend.
Sein naiver Zorn erschütterte Zoe. Tief in ihrem Innern stimmte sie ihm zu, auch wenn sie sich gleichermaßen dafür schämte. Sie hatte schon Grabreden gehört, bei denen sich ihr die Fußnägel aufgerollt hatten. Dass der zu Lebzeiten gewalttätige Vater ausgerechnet von der gebeutelten Familie mit Lobeshymnen überhäuft wurde, stellte nur ein Beispiel unter vielen dar. Löschte der Tod automatisch das Schuldenregister auf Erden? Stieg selbst die dunkelste Seele nach ihrem Ableben als leuchtender Engel gen Himmel? Es war einfacher, die Toten zu ehren, wenn man ihre Lebensgeschichte nicht kannte. Für Zoe ging die Wertschätzung gegenüber dem Verblichenen mit der Qualität ihrer Arbeit einher.
Sie richtete sich auf und bedachte Josh mit einem tadelnden Blick. Allerdings ignorierte er diesen und zog es vor, sich ebenfalls über den Leichnam zu beugen. »Ist ja ekelhaft! Der hat überhaupt kein Gesicht mehr.«
»Das ist kein Problem. Wenn ich mit ihm fertig bin, sieht er aus wie vorher«, entgegnete Zoe und fing an, den Reißverschluss wieder zuzuziehen.
Josh verdrehte die Augen. »Dazu müsstest du dem Kerl die Eier abschneiden
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