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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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hielten sie Blickkontakt zueinander, um möglichst schnell eingreifen zu können. Dennoch sträubte sich alles in Zoe, bei Familie Nauen anzurufen.
    Herr Nauen war ein vornehmer Mann, der so leise sprach, dass man Mühe hatte, ihn überhaupt zu verstehen. Damals war Zoe ihm vor dem Polizeigebäude direkt in die Arme gelaufen, nachdem sie kopfüber vor den peinlichen Fragen der Polizeibeamten geflüchtet war. Er hatte ihr gönnerhaft auf die Schulter geklopft und sie unter buschigen Augenbrauen hervor mitfühlend angesehen. Seine freundlichen Worte hatten jedoch nicht echt geklungen – wobei Zoe nicht viel von dem Gerede verstanden hatte. Nur Bruchstücke von Sätzen waren damals zu ihr durchgedrungen.
    … war nicht so gemeint … Dummejungenstreiche … Karrierepläne des Sohnes …
    Während der ganzen Zeit hatte sie mühsam den Drang unterdrücken müssen, davonzulaufen. Ihre Füße schienen wie auf dem Boden festgeklebt. Unmissverständlich war allerdings, als Herr Nauen sein Scheckheft zog und sie mit einem Nicken aufforderte, eine Summe zu nennen. Schließlich würde man sich schon einig werden, wenn sie die Anzeige zurückzog. Sie hatte den Mann damals perplex angestarrt und musste auf ihn gewirkt haben wie ein geistig verwirrtes Kind. Erst als sie erkannte, dass er die gleichen Augen hatte wie sein Sohn, löste sich die Starre. Sie hatte sich auf dem Absatz umgedreht und war davongerannt.
    Seither hatte sie kein Mitglied der Familie Nauen mehr gesehen. Bis auf ihre Begegnung mit Boris. Die bevorstehende Trauerfeier bereitete ihr allerdings keine Probleme. Es handelte sich um einen höchst offiziellen Anlass, bei dem sie dem Ehepaar aus dem Weg gehen konnte.
    Zoe zwang sich, aus den alten Erinnerungen in die Gegenwart zurückzukehren. Inzwischen war sie keine verängstigte Sechzehnjährige mehr und würde sich nicht mehr so schnell einschüchtern lassen. Ein seltsames Unbehagen überkam sie. Sie war die Inhaberin des Geschäfts und konnte sich vor unangenehmen Aufgaben nicht drücken. Auf manche Aspekte des Erwachsenseins hätte sie gern noch eine Weile verzichtet.
    Sie kämpfte gegen die aufkommende Nervosität an, stellte ihre Tasse ab und ging in die Empfangshalle. Missmutig starrte sie auf den altmodischen Telefonapparat mit Wählscheibe. Ihre Mutter weigerte sich strikt, eines der kabellosen Mobilteile des ISDN-Anschlusses zu benutzen. Stattdessen hatte Zoe das historische Ding vom Telefonanbieter separat anschließen lassen müssen. Sie hob den Hörer von der Gabel. Einer Visitenkarte entnahm sie die Nummer. Das vertraute Surren der Wählscheibe weckte unwillkürlich Kindheitserinnerungen – wie der Geruch von Möbelpolitur und Hühnersuppe. Während sie dem Klingeln am anderen Ende der Leitung lauschte, zwirbelte sie das Telefonkabel zwischen ihren Fingern. Heutzutage lief man mit seinem Telefon am Ohr durch die Gegend, erledigte meistens noch etwas nebenher. Diese alten Apparate hingegen zwangen den Benutzer hartnäckig, an einem festen Platz zu verharren, was zu zahlreichen gekritzelten Kunstwerken auf Notizblöckchen führte.
    Es klingelte weiter. Zoe tippte ungeduldig mit dem Finger gegen den Hörer. Wahrscheinlich besaß man im Hause Nauen auch nur ein Telefon, und der Weg über die breite Treppe aus dem Obergeschoss der Villa musste erst einmal zurückgelegt werden. Gelassenheit war ein nicht zu verachtender Luxus. Zoe versuchte, zu ignorieren, dass ihre Hände vor Aufregung feucht waren. Es handelte sich nur um ein notwendiges Geschäftsgespräch, versuchte sie sich zu beruhigen. Schließlich wollte sie mögliche Scherereien von ihrem Unternehmen abwenden.
    Sie nickte ihrer Mutter zu. Noch während sie sich darüber wunderte, dass ihr Herz wie wild klopfte, zogen unerwartet Erinnerungsfragmente von ihrer Begegnung mit Boris’ Vater vor ihrem inneren Auge auf. Das Bild fügte sich wieder zusammen, und damit kehrte auch das bedrückende Gefühl zurück. Es hatte damals nicht das geringste Mitgefühl in der Stimme des älteren Mannes mitgeschwungen, als er sie dazu aufforderte, sich nicht so anzustellen. Schließlich wäre nichts weiter passiert, und ein hübsches junges Ding wie sie müsste sich nicht wundern, wenn es ein paar Burschen den Kopf verdrehte. Dabei hatte er sie gemustert, wie sie nicht von vermeintlich gutmütig aussehenden Herren gemustert werden wollte. Das war damals der Startschuss für ihre kopflose Flucht gewesen. In Zoes Hals bildete sich ein Kloß. Sie schluckte. Sie

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