Die Totenmaske
wie bestimmend hallte es über die Wiese. Üppige Blütensträucher versperrten die Sicht auf den Eingang der Kapelle. Doch Zoe wusste, dass ihre Mutter genau dort stand und eine gusseiserne Handglocke schwenkte, deren schriller Klang eindringlicher war als eine bedeutend größere Kirchturmglocke. Eine solche war Isobel von offizieller Stelle untersagt worden. Inhaltlich orientierte ihre Glaubensgemeinschaft sich zwar eng an den Lehren der neuapostolischen Kirche, war dieser allerdings nicht angeschlossen. Doch in Deutschland herrschte Religionsfreiheit, und die hauseigene Kapelle erwies sich als durchaus praktisch, um sich als religiöse Gruppe über den Status einer Sekte hinwegzuheben. Schließlich konnte sich jeder Apostel nennen, der sich im wörtlichen Sinne dazu berufen fühlte.
Das Monopol auf die harmonische Ankündigung zum Dialog mit Gott behielt dennoch die katholische Kirche im Ort. Wenigstens kamen sie sich nicht akustisch ins Gehege, da die apostolische Messe samstags stattfand. So konnten die Gläubigen ebenso den katholischen Gottesdienst am Sonntag besuchen. Was ein Großteil von ihnen auch tat, um den Schein zu wahren oder keine endgültige Entscheidung treffen zu müssen. Für Zoes Mutter war das eher zweitrangig – für sie zählte, dass ihr Bethaus nicht leer blieb. Vermutlich hatte sie einkalkuliert, dass es für die meisten Menschen problematisch war, wenn es darum ging, Farbe zu bekennen. Und es war durchaus möglich, dass Isobel in weiser Voraussicht, einer etwaigen Konkurrenz nicht standhalten zu können, ihre Messe am siebten Tag der Woche abhielt.
Der Aufstieg zur erhöht gelegenen Kapelle verlieh den herbeiströmenden Menschen eine vornübergebeugte Haltung, so dass sogar die Kinder wirkten wie Opferlämmer auf dem Weg zum Altar. Der Gottesdienst für Entschlafene stand bevor. Die feierliche Zeremonie fand dreimal im Jahr statt und spendete bereits Verstorbenen die Sakramente des neuapostolischen Glaubens. Eine konfessionelle Besonderheit, die in anderen christlichen Gemeinschaften überhaupt nicht oder nur teilweise existierte. In Isobels Kapelle fanden auch die Toten ihr Heil oder konnten ihre Sünden noch im Jenseits loswerden. Daraus resultierte die völlig kontroverse Einstellung zum Tod, durch die Zoe oft mit ihrer Mutter aneinandergeriet. Mit Boris und seinen Freunden dürfte es drei zusätzliche Seelen geben, für deren Heil sich die Gemeinde ins Zeug legen konnte. Um die irdischen Überreste würde Zoe sich kümmern.
Sie runzelte die Stirn. Das Gebimmel wollte nicht mit ihrem schweren Kopf harmonieren. Sie fuhr mit einem Finger über den glatten Mahagonirahmen des runden Fensters. Die ganze Szene wirkte wie ein Ausschnitt aus einem alten Film. Wenn Zoe nicht genau gewusst hätte, dass unten auf dem Parkplatz keine Pferdegespanne, sondern eine Reihe Mittelklassewagen standen, gemahnte das Bild, das sich ihr bot, kaum an das Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Auch wenn gerade diese über die Zeitalter andauernde Beständigkeit des Glaubens den Menschen Halt zu bieten schien, konnte Zoe dem nichts abgewinnen. Sie zog es vor, sich mit den weltlichen Dingen der Gegenwart zu beschäftigen. Abrupt wandte sie sich um und eilte die Treppe hinab, dem aufsteigenden Kaffeeduft entgegen.
Der Samstagvormittag war für Besorgungen reserviert. Im Bestattungsunternehmen fielen ständig Kleinigkeiten an, wie besondere Kissenbezüge für die Innenausstattung der Särge. Seit Jahren ließ Zoe diese von einer Schneiderin in Emmelshausen nähen, die schnell genug arbeitete, um es auch mit drei Särgen gleichzeitig aufzunehmen. Geschäftig eilten die Leute die beschauliche Einkaufsmeile im Ort entlang. Es gab nicht viele Läden, aber das Nötigste war vorhanden.
Nachdem Zoe die Schneiderei verlassen hatte, wollte sie noch Brot besorgen. Mit raschen Schritten bog sie um die Ecke eines Fachwerkhauses, dessen Dachrinne so niedrig hing, das Zoe jede einzelne verwitterte Ausbeulung erkennen konnte. Die kleinen Butzenfenster waren peinlich sauber und leuchteten im Weiß der dahinter hängenden Spitzengardinen. Zu spät wandte sie den Blick wieder nach vorn, da prallte sie schon gegen eine Männerbrust. Wie in Zeitlupe schien ihr Gesicht am Stoff des Hemdes herabzurutschen. In einer amerikanischen Komödie war das sicher witzig – im wahren Leben einfach nur peinlich. Keuchend wich sie zurück und wäre beinahe gestolpert, wenn Strater nicht nach ihrem Arm gegriffen hätte.
»Ich wollte auch
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