Die Totenmaske
einer Hand weitläufig die Stelle frei, um besser erkennen zu können, worum es sich handelte. Er beugte sich weiter vor. Eine Polaroid-Filmdose. Interessant! Es gab kaum Spuren von Verwitterung und schien kein prähistorisches Überbleibsel aus Zeiten vor der digitalen Fototechnik zu sein.
Teenager fotografierten sich ständig gegenseitig, allerdings benutzten sie dazu ihre Fotohandys.
Leon zog aus seiner Jackentasche einen kleinen wiederverschließbaren Plastikbeutel hervor und bugsierte das Plastikdöschen hinein, ohne es zu berühren. Irgendjemand hatte sich hier aufgehalten und fotografiert. Abgeschottet genug lag diese Stelle allemal. Hinter Leon ertönte der Ruf eines Käuzchens. Er fuhr herum und spähte in die Dunkelheit des Waldes. Der Wind rauschte leise in den Baumwipfeln. Ein Schaudern zog über seinen Rücken. Nicht selten kehrten Mörder an den Tatort zurück. Vor ihm befand sich eine Lücke im Buschwerk. Die Äste waren zur Seite geschoben und stellenweise abgeknickt. Von hier aus bot sich ein genauer Überblick der Stelle, an der vermutlich der Wagen der Opfer geparkt hatte. Ob der Täter nun von der Straßenseite oder aus dem Wald gekommen war, konnte Leon nicht auf Anhieb bestimmen. Dazu bedurfte es einer genaueren Untersuchung des Platzes. Ein klarer Fall für das Spurensicherungsteam. Die Kollegen aus Mainz würden nicht begeistert sein, erneut hierhergeschickt zu werden, zumal sie bereits den Unfallort untersucht hatten. Doch inzwischen lagen die Fakten anders. Leon war sicher, sich gerade am eigentlichen Tatort zu befinden. Er zog sein Handy aus der Hosentasche, um bei der Soko ein Spezialistenteam anzufordern.
*
»Du kommst spät«, stellte Zoes Mutter fest, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken.
Die Schleife ihrer Schürze schaukelte im Takt, während sie mit kreisenden Handbewegungen das Cerankochfeld polierte. Der Geruch von Reinigungsmitteln überlagerte den der Kochdünste.
»Ich hatte zu tun und bin auch gleich unten.«
Zoe klaubte mit spitzen Fingern ein Stück Salatgurke aus der bereitgestellten Schüssel und lehnte sich gegen die Küchenanrichte. Früher hätte Isobel ihr einen Klaps auf die Finger gegeben, doch mittlerweile begnügte sie sich mit einem tadelnden Seitenblick. Sie hasste es, wenn jemand aus ihren Töpfen naschte, bevor das Essen serviert war. Zoes Vater hatte dieselbe Eigenart besessen und auf Isobels Rüge stets mit einem beschwichtigenden Ach, Isobel, hab dich doch nicht so! reagiert, woraufhin diese manchmal sogar lächelte.
Nur ein Mal hatte Zoe ihren Vater imitiert, danach nie wieder. Ihre Mutter hatte nicht viel für Späße übrig. Damals hatte Zoe damit angefangen, ihre Mutter in Gedanken beim Vornamen zu nennen. Der anfänglich rebellische Trotz war inzwischen in Gewohnheit übergegangen.
Die Küche war blitzblank. Nicht einmal die schräg einfallenden Sonnenstrahlen schafften es, Schmierstreifen auf der Lackoberfläche der Schränke zu entlarven. Hausarbeit stellte eindeutig Isobels zweite Leidenschaft dar, gleich nach ihrer Kirchentätigkeit. Was das betraf, war sie derart akribisch, dass das Ergebnis noch nach seinesgleichen suchte. Im Gegensatz zu ihren früheren Schulkameradinnen gab es für Zoe nie einen Grund, sich darüber zu beklagen, im Haushalt mit anpacken zu müssen. Ihre Mutter verlangte von Zoe keine Hilfe. Vermutlich traute sie es ihr nicht zu, oder sie war der Ansicht, es klebte zu viel Leichengift an Zoes Händen. Dabei waren Leichen nicht giftiger als das Fleisch, das ihre Mutter soeben auf ihrer hochsauberen Küchenanrichte zubereitet hatte. Es war zwecklos, sie davon überzeugen zu wollen. Wenn es nach ihr ginge, wäre der gesamte Kellerbereich hermetisch abgeriegelt, damit auch bloß keine geheimnisvollen Giftgase ins Haus strömten. Seltsamerweise hatte Isobel, wie die meisten Anhänger dieser Mär, keine Probleme damit, sich in der Nähe eines aufgebahrten Sarges aufzuhalten.
Dennoch musste Zoe schmunzeln, denn ihre Mutter ahnte nicht, dass genau dort ihre Gemeinsamkeit lag. In ihrem Behandlungsraum war Zoe ebenso penibel wie sie, nahm jede Hygienevorschrift doppelt ernst. Natürlich trug sie aus Hygienegründen Gummihandschuhe. Es bestand immer die Gefahr, sich zu infizieren. Jemand könnte an einer Infektionskrankheit gestorben sein. Oder Reste von stationären Behandlungen wie Schläuche und Injektionsnadeln steckten noch im Körper der Leiche. Demselben Risiko waren allerdings auch Rettungssanitäter im Umgang mit Lebenden
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