Die Totensammler
zu haben. Sie hatte noch nie solche Angst. Dieser Mann wird ihr schreckliche Dinge antun, und sie wird damit leben müssen, es wird sie verfolgen und in den Wahnsinn treiben. Die Person, die sie bis jetzt gewesen ist, wird bald sterben.
Aber sie wird das hier überstehen. Sie wird überleben. Sie weiß es, weil, weil … etwas anderes nicht für sie vorgesehen ist. Ausgeschlossen, dass ihr Leben bald enden wird. Das kann nicht sein. Das ergibt keinen Sinn. Sie weint noch heftiger.
»Bitte«, wiederholt sie.
Das Halsende einer Plastikflasche wird gegen ihre Lippen gepresst.
»Das ist Wasser«, sagt der Mann und hebt die Flasche an. Das Wasser läuft ihr in den Mund. Sie hasst ihn, doch sie hat gewaltigen Durst und trinkt gierig. Nach ein paar Schlucken nimmt er die Flasche wieder weg.
»Bald gibt es mehr«, sagte er.
»Wer sind Sie? Was machen Sie mit mir?«
»Keine Fragen«, sagt er, und dann ist da wieder dieser Druck auf ihrem Mund, von einer Art Klebeband. »Du musst bei Kräften bleiben«, sagt er zu ihr. »Ich habe nächste Woche was ganz Besonderes mit dir vor, dafür brauchst du das hier nicht«, fügt er hinzu, und sie spürt, wie eine Klinge unter ihre Kleidung gleitet und sie aufschneidet.
Kapitel 1
Die heiße Luft ist vom Staub des Gefängnishofes erfüllt. Fliegen und Mücken versuchen meinen Hals als Landebahn zu benutzen. Riesige Betonwände trennen mich von den Geräuschen auf der anderen Seite, wo die Männer ihrem gewohnten Tagesablauf nachgehen; sie spielen Fußball oder Karten, oder sie werden fertiggemacht. Zur Rechten erheben sich mehrere Kräne und Baugerüste; Arbeiter errichten einen weiteren Flügel für ein Gefängnis, das mit der Zahl der Häftlinge einfach nicht Schritt halten kann. Schmutz und Betonpartikel hüllen mich ein wie Nebel an einem Wintermorgen, so dicht, dass ich kaum was erkennen kann. Gut möglich, dass gerade eine Kuhherde hier durchläuft – oder eine Horde Häftlinge auf der Flucht. Meine Klamotten riechen muffig und fühlen sich steif an; die letzten vier Monate lagen sie zusammengefaltet in einer Papiertüte, aber sie sind trotzdem hundertmal bequemer als der Gefängnisoverall, in dem ich gearbeitet, geschlafen und gegessen habe. Noch immer spüre ich den Schweiß dieser vier Monate auf der Haut. Vom Asphalt steigt Hitze in meine Füße. Wenn ich meine Fäuste balle, spüre ich – wie ein Amputierter seinen Phantomschmerz – das Metall und die Betonwände, die mich von der Welt draußen abgeschottet haben. Denn genau darum ging es im Knast, ums Abschotten. Nicht nur von der Welt, sondern auch von den anderen Gefangenen. Ich habe Tag und Nacht unter Pädophilen und anderen Exemplaren menschlichen Abschaums verbracht, Gefangene, die man nicht auf die Bevölkerung loslassen kann, weil die Gefahr besteht, dass ihnen jemand die Kehle aufschlitzt. Vier Monate, die sich wie vier Jahre angefühlt haben, aber es hätte schlimmer kommen können. Man hätte mir die Zähne ausschlagen oder jede Nacht das Bück-dich-nach-der-Seife-Spielchen mit mir spielen können. Ich war ein Ex-Cop in einer Welt aus Beton und Stahl, unter Männern, die Cops noch mehr hassen als ihre Mitgefangenen. Ich fand es zum Kotzen, die ganze Zeit von Kinderschändern umgeben zu sein, doch es war immer noch besser als die Alternative. Meistens blieben sie für sich und gaben sich Fantasien über die Taten hin, die zu ihrer Verhaftung geführt hatten. Fantasien darüber, in dieses Leben jenseits der Mauern zurückzukehren.
Die Gefängniswärter behalten mich vom Eingang aus im Auge. Es scheint fast, als hätten sie Angst, ich könnte versuchen einzubrechen. Ich komme mir vor wie eine Figur aus einem Film, wie einer dieser hilflosen Typen, der in einer anderen Zeit wieder zu sich kommt und jemanden nach dem Datum und dem Jahr fragt, worauf man ihn anstarrt, als wäre er verrückt. Natürlich kenne ich das heutige Datum. Seit meiner Verhaftung habe ich diesem Tag entgegengefiebert. Meine Klamotten sind ein wenig zu groß, denn ich habe etwas abgenommen. Gefängniskost ist Mangelkost.
Es ist neun Uhr, die Sonne knallt vom Himmel, und ich werfe einen langen Schatten hinter mich. Fast überall, wo man hinschaut, wirkt der Boden wie mit einer Wasserschicht überzogen, mit einer dünnen, in der Hitze flirrenden Wasserlache. Der Asphalt greift nach meinen Schuhsohlen. Mit der Hand schirme ich meine Augen ab. Ich bin erst seit fünfundzwanzig Sekunden aus dem Knast, aber ich kann mich nicht erinnern, je
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