Die Totgesagten
der Diskette fehlte, fiel bei Patrik augenblicklich der Groschen. Er machte auf dem Absatz kehrt, rannte in sein Zimmer und starrte die Schwedenkarte an. Der Reihe nach betrachtete er die Stecknadeln, die die Heimatorte der Mordopfer markierten. Was bis jetzt nur ein undeutliches Muster gewesen war, wurde nun immer klarer. Gösta und Annika waren ihm verblüfft gefolgt und sahen völlig perplex zu, wie er in seinen Schubladen wühlte.
»Was suchst du denn?«, fragte Gösta, aber Patrik gab keine Antwort. Immer mehr Papier bedeckte den Fußboden. In der letzten Schublade fand er schließlich, wonach er gesucht hatte. Mit angespanntem Gesichtsausdruck richtete er sich auf und begann, abwechselnd zu lesen und neue Nadeln in die Schwedenkarte zu stecken. Langsam, aber sicher befestigte er dicht neben jedem markierten Ort eineneue Stecknadel. Als Patrik fertig war, drehte er sich um.
»Ich hab’s.«
Dan hatte sich endlich einen Ruck gegeben und einen Makler angerufen. Die Firma befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und er sah die Telefonnummer jedes Mal, wenn er aus dem Küchenfenster blickte. Nachdem die Sache ins Rollen gekommen war, ging alles erstaunlich leicht. Der junge Mann am Telefon hatte gesagt, er könne sofort herüberkommen und sich alles ansehen. Das war Dan nur recht, denn er wollte das Ganze nicht unnötig in die Länge ziehen.
Der Verkauf des Hauses fiel ihm ohnehin nicht mehr so schwer. Nach den vielen Gesprächen mit Anna, nach allem, was er über die Hölle wusste, durch die sie mit Lucas gegangen war, kam es ihm irgendwie … lächerlich vor, sein Herz an ein Haus zu hängen. Welche Rolle spielte es, wo er wohnte? Hauptsache, die Mädchen besuchten ihn. Er wollte sie in den Arm nehmen, ab und zu sein Gesicht an ihren Hals schmiegen und zuhören, wenn sie von ihrem Tag erzählten. Alles andere war unwichtig. Seine Ehe mit Pernilla war definitiv vorbei. Das hatte er zwar schon lange begriffen, aber er war nicht bereit gewesen, die Konsequenzen zu ziehen. Nun war es an der Zeit, grundlegende Veränderungen an seinem Leben vorzunehmen. Pernilla hatte ihr Leben, und er hatte seins. Er hoffte nur, dass sie irgendwann zu der Freundschaft zurückfinden würden, auf der ihre Ehe aufgebaut hatte.
Seine Gedanken wanderten weiter zu Erica. In wenigen Tagen würde sie heiraten. Dass sie beide gleichzeitig einen großen Schritt wagten, schien ihm irgendwie passend. Und er freute sich von ganzem Herzen für sie. Es war so lange her, dass sie ein Paar gewesen waren. Damals waren sie jung gewesen, vollkommen andere Menschen. Aber ihre Freundschaft hatte die Zeit überdauert, und er hatte ihr immergenau das gewünscht: Kinder, Zweisamkeit und die kirchliche Hochzeit, von der sie heimlich geträumt hatte – obwohl sie es nie zugegeben hätte. Patrik passte perfekt zu ihr. Erde und Luft. So empfand er die beiden. Patrik stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden, er war zuverlässig, vernünftig und gelassen. Erica dagegen war eine Träumerin, die gern Luftschlösser baute, aber mutig und intelligent genug war, um die Bodenhaftung nicht völlig zu verlieren. Sie passten wirklich zusammen.
Auch an Anna hatte er in der letzten Zeit oft gedacht. Erica hatte ihre Schwester immer übertrieben behütet, weil sie sie für schwach hielt. Witzigerweise betrachtete Erica sich selbst als die praktisch Veranlagte und ihre Schwester Anna als Träumerin. In den letzten Wochen hatte Dan jedoch gemerkt, dass es sich genau umgekehrt verhielt. Anna war die Realistin, sie sah die Dinge so, wie sie waren. Möglicherweise hatte sie das erst in den Jahren mit Lucas gelernt. Doch Anna raubte Erica nicht die Illusion, die Stärkere zu sein. Wahrscheinlich spürte sie, dass Erica das Gefühl brauchte, Verantwortung für ihre kleine Schwester zu tragen. In gewisser Hinsicht stimmte das ja auch, aber andererseits hatte sie Anna unterschätzt und wie ein Kind behandelt – wie es sonst eben die Eltern tun.
Dan stand auf und holte sich das Telefonbuch. Es wurde Zeit, eine neue Wohnung zu suchen.
Die Stimmung in der Dienststelle war gedrückt. Patrik hatte die Kollegen zu einem Meeting in Mellbergs Zimmer zusammengetrommelt. Alle saßen schweigend da und starrten auf den Boden. Niemand konnte das Unfassbare begreifen. Patrik und Martin hatten gemeinsam den Fernseher und den Videorekorder hereingerollt. Nachdem Patrik ihm alles erzählt hatte, war Martin ein Licht aufgegangen. Nun wusste er, was ihm bei den Videoaufnahmen
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