Die Totgesagten
spielen, plötzlich zählten ganz andere Dinge. Als die Lebensmittel zur Neige gingen und Dreck und Sandflöhe das Leben bestimmten, war plötzlich nichts mehr von ihm übrig. Er war ein Niemand. Eine äußerst schmerzhafte Erfahrung. Er wurde als fünfter Mann abgewählt, nicht einmal bis zur Zusammenlegung des Süd- und des Nordlagers schaffte er es. Und er konnte auch nicht mehr die Augen vorder Tatsache verschließen, dass ihn niemand mochte. In Stockholm war er zwar auch nicht übermäßig beliebt, doch dort hatten die Leute wenigstens Respekt vor ihm. Sie schleimten sich zu jeder Gelegenheit bei ihm ein, um ja dabei sein zu dürfen, wenn später der Champagner in Strömen floss und die Bräute sich um ihn scharten. Auf der Insel war diese Welt weit weg gewesen, und ein Volltrottel aus Småland hatte gewonnen. Ein Tischler, den alle vergötterten, weil er so ursprünglich, so ehrlich und so bodenständig war. Diese Idioten. Nein, die Insel wollte er so schnell wie möglich vergessen.
Diesmal würde es anders werden. Hier war er schon eher in seinem Element. Vielleicht nicht gerade am Spülbecken, aber immerhin war er hier kein Niemand. Hier hatten seine vornehme Sprechweise, sein klassisch aus dem Gesicht gegeltes Haar und die teuren Markenklamotten ein gewisses Gewicht. Er musste weder halbnackt herumlaufen wie ein Wilder noch mit irgendwelchen Arschgeigen kooperieren. Hier konnte er sich als Alphatier aufspielen. Widerstrebend nahm er einen schmutzigen Teller vom Stapel und brauste ihn ab. Er würde die Produktionsleitung fragen, ob er nicht mit Tina tauschen könnte. Das hier passte so gar nicht zu seinem Image.
In diesem Moment rauschte prompt Tina durch die Schwingtür.
Sie lehnte sich an die Wand, streifte ihre Schuhe ab und zündete sich eine Zigarette an.
»Willst du auch eine?« Sie hielt ihm die Schachtel hin.
»Scheiße, ja.« Er lehnte sich neben ihr an die Wand.
»Wir dürfen hier nicht rauchen, oder?« Sie blies einen Rauchring.
»Nein.« Calle blies ebenfalls einen Ring, der ihrem Rauchkringel hinterherwaberte.
»Was meinst du, wie wird es heute Abend?«
»Die Disko, oder wie die das nennen?«
»Genau.« Sie lachte. »Ich glaube, ich war seit der Mit telstufenicht mehr in der Disko.« Sie streckte ihre schmerzenden Zehen, die seit Stunden in engen Schuhen mit hohen Absätzen eingequetscht gewesen waren.
»Natürlich werden wir unseren Spaß haben. Hey Mann, hier sind wir doch die Kings. Die Leute kommen unseretwegen. Wenn das keinen Spaß macht, weiß ich auch nicht.«
»Jedenfalls wollte ich Fredrik fragen, ob ich singen darf.«
Calle lachte. »Ist das dein Ernst?«
Tina sah ihn gekränkt an. »Denkst du, ich mache das hier zum Vergnügen? Ich will was erreichen. Monatelang habe ich Gesangsunterricht genommen. Nach meiner Staffel bei Der Bar waren die Plattenfirmen total heiß auf mich.«
»Du hast also schon einen Plattenvertrag?« Grinsend zog Calle an seiner Zigarette.
»Nein, das hat irgendwie nicht geklappt. Mein Manager sagt, es lag am Timing. Wir müssen einen starken Song finden, mit dem ich mich profilieren kann. Er versucht gerade zu organisieren, dass Bingo Rimér Fotos von mir macht.«
»Von dir?« Calle lachte höhnisch. »Da hat Barbie wohl die besseren Chancen. Du hast doch nichts …« Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern. »… zu bieten.«
»Wie bitte? Meine Figur ist mindestens so hübsch wie die von dieser bescheuerten Tussi. Nur meine Titten sind ein bisschen kleiner.« Tina warf ihre Zigarette auf den Boden und zerquetschte sie wütend mit dem Absatz. »Außerdem spare ich für neue Brüste«, fügte sie pampig hinzu. »Noch zehntausend, dann kann ich mir auch Körbchengröße D leisten.«
»Viel Glück.« Auch Calles Zigarette landete auf dem Fußboden. In diesem Moment kam Günther zurück. Sein Gesicht wurde noch röter, als es bereits von den heißen Küchendämpfen war. » Raucht ihr hier etwa? Das ist ver boten,total verboten, absoluuut verboten!« Er fuchtelte aufgebracht mit den Armen.
Calle und Tina schütteten sich aus vor Lachen. Der Typ war die reinste Karikatur. Dann machten sie sich lustlos wieder an die Arbeit. Die Kameras hatten alles eingefangen.
D ieschönsten Momente waren die, in denen sie ganz, ganz eng nebeneinandersaßen. Wenn sie das Buch holte. Das Rascheln der Seiten, die behutsam umgeblättert wurden, ihr Duft, der weiche Stoff ihrer Bluse an seiner Wange. In diesen Momenten blieben die Schatten auf Abstand. Alles,
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