Die Totgesagten
was draußen zugleich lockte und schreckte, wurde unwichtig. Ihre Stimme hob und senkte sich wie in sanften Wellen. Manchmal, wenn sie müde waren, schlief einer von ihnen auf ihrem Schoß ein, manchmal beide. Dann begleiteten die Geschichte, die Stimme, das Rascheln des Papiers und ihre Finger, die über ihre Haare strichen, sie in den Schlaf.
Die Geschichte hatten sie so oft gehört. Sie kannten sie in- und auswendig. Trotzdem wirkte sie jedes Mal neu. Manchmal beobachtete er seine Schwester, während sie lauschte. Ihr Mund war ein klein wenig geöffnet. Der Blick fest auf die Zeilen geheftet. Sie trug ein Nachthemd, und das Haar fiel ihr offen über den Rücken. Jeden Abend bürstete er ihr die Haare. Das war seine Aufgabe.
Wenn sie vorlas, verflüchtigte sich der Wunsch, in die Welt hinter der verschlossenen Tür hinauszugehen. Dann gab es nur diese bunte Abenteuerwelt voller Drachen, Prinzen und Prinzessinnen. Keine verschlossene Tür. Keine zwei verschlossenen Türen.
Erkonnte sich dunkel erinnern, dass er zu Beginn Angst gehabt hatte. Später nicht mehr. Nicht, solange sie so gut roch und sich so gut anfühlte und ihre Stimme sich so rhythmisch hob und senkte. Nicht, solange er wusste, dass sie ihn beschützte. Nicht, solange er wusste, dass er ein Unglücksrabe war.
W ährendsie darauf warteten, dass Ola von der Arbeit nach Hause kam, widmeten sich Patrik und Martin anderen Aufgaben. Sie hatten ihn erst an seinem Arbeitsplatz aufsuchen wollen, um dort mit ihm zu reden, beschlossen aber doch, bis zu seinem Feierabend um siebzehn Uhr zu warten. Es gab keinen Grund, ihn den neugierigen Fragen seiner Kollegen auszusetzen. Jedenfalls noch nicht. Kerstin hatte es schließlich für unwahrscheinlich gehalten, dass er etwas mit den Briefen und Anrufen zu tun hatte. Patrik war sich da nicht ganz so sicher wie sie. Er musste erst zweifelsfrei vom Gegenteil überzeugt sein, bevor er diesen Gedanken fallenließ. Das Bündel Briefe war am Nachmittag zum Staatlichen Kriminaltechnischen Labor SKL geschickt worden. Außerdem hatte er eine Auflistung aller Anrufer beantragt, die in den jeweiligen Zeiträumen mit den anonymen Anrufen Kerstins und Marits Nummer gewählt hatten.
Als Ola ihnen die Tür aufmachte, schien er gerade aus der Dusche zu kommen. Er hatte sich hastig ein paar Kleider übergeworfen, aber seine Haare waren noch nass. »Ja?« Er klang ungeduldig. Die Trauer vom Montag, als sie ihm den Tod seiner Exfrau mitgeteilt hatten, war wie weggewischt. Zumindest war sie ihm längst nicht so deutlich ins Gesicht geschrieben wie Kerstin.
»Wirwürden gern ein paar Worte mit Ihnen wechseln.«
»Aha?«
»Es geht um einige Dinge, die Marits Tod betreffen.« Patrik sah ihn eindringlich an.
Ola schien zu begreifen, denn er machte einen Schritt zur Seite und ließ die beiden eintreten.
»Kein Problem, ich hätte Sie sowieso angerufen.«
»Ach ja?« Patrik ließ sich auf dem Sofa nieder. Diesmal hatte sie Ola nicht in die Küche geführt, sondern zur Sitzgarnitur im Wohnzimmer.
»Ja, ich wollte mich erkundigen, ob es möglich ist, ein Besuchsverbot zu erwirken.«
Ola setzte sich auf einen großen Ledersessel und legte ein Bein über das andere.
»Aha.« Martin warf Patrik einen forschenden Blick zu. »Und wem soll das erteilt werden?«
Olas Augen funkelten. »Kerstin. Ich möchte nicht, dass sie Sofie weiter sieht.«
Weder Patrik noch Martin wirkten überrascht. »Und warum, wenn ich fragen darf?« Patriks Tonfall klang verdächtig ruhig.
»Es gibt keinen Grund, warum Sofie diese … diese Person weiter sehen sollte!« Vor Hass tropfte ihm beinahe der Speichel aus dem Mund. Ola beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Sie ist heute wieder dort hingefahren. Als ich zum Mittagessen nach Hause kam, war ihr Rucksack weg. Bei ihren Freundinnen ist sie nicht, da habe ich angerufen. Sie ist bestimmt bei dieser … dieser Lesbe. Lässt sich das nicht irgendwie unterbinden? Selbstverständlich werde ich ein ernsthaftes Gespräch mit Sofie führen, wenn sie nach Hause kommt, aber man muss doch auch juristisch etwas dagegen unternehmen können.«
»Nun ja, das wird wahrscheinlich nicht einfach.« Patriks Vorahnungen bestätigten sich. Dass sie mit ihren Fragen ins Schwarze treffen würden, erschien nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich.
»EinBesuchsverbot ist eine sehr harte Maßnahme, die ich in diesem Fall nicht für angebracht halte.« Er beobachtete, wie Ola zunehmend in Rage geriet.
»Aber,
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