Die Traene des Drachen
wieder Halt suchend ab. Sie war wie blind. Überall um sie herum war Schnee, den sie einatmete und der ihre Lungen zum Rebellieren brachte. Mit einem Mal stieß sie auf einen festen Untergrund. Ihre Landung wurde jedoch durch den lockeren Schnee, der mit ihr hinuntergefallen war, gedämpft. Sie drückte sich mit der Brust an die Wand, um ihren Hustenreiz und ihren galoppierenden Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Schnee fiel immer noch auf sie nieder, sodass sie die Augen weiterhin geschlossen hielt. Ihre Gedanken wanderten zu Maél, der ebenfalls schon ein paar Schritte auf die gefährliche Fläche gewagt hatte. Hoffentlich ist ihm nicht das Gleiche passiert! Er muss mich doch hier irgendwie wieder herausholen! Endlich kam kein Schnee mehr von oben. Elea konnte wieder tief einatmen und öffnete langsam ihre Augen. Es war ziemlich dunkel, sodass sie die Fellkapuze von ihrem Kopf streifte und das Kopftuch löste. So konnte sie erst einmal ihre Umgebung in Augenschein nehmen. Zuerst schaute sie auf ihre Füße. Sie stand auf einem Vorsprung, der knapp zwei Schritte von der Wand ragte und mindestens fünf Schritte breit war. Auf diese Erkenntnis hin entspannte sie sich etwas. Was unter dem Vorsprung war wollte sie vorerst nicht wissen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schaute nach oben. Ihre nächste Erkenntnis war, dass sie in eine Eisspalte gefallen sein musste. Sie war umzingelt von Wänden aus purem Eis. Von hier unten konnte sie noch deutlich einen Streifen blauen Himmels erkennen. Leider aber noch nicht das grimmig dreinblickende Gesicht Maéls. Er wird außer sich sein vor Wut, weil ich so unvorsichtig war und einfach losgerannt bin. Nach einer Weile brachte Elea ihren Kopf wieder in seine normale Position, weil ihr bereits der Nacken durch das steile Nach-oben-Blicken schmerzte. Sie drehte sich wieder um und besah sich die Wand genauer, an der sie hinuntergeschlittert war. Ihr Eis war hart wie Stein. Und dieses Eis war nicht weiß und undurchsichtig wie Schnee, sondern so klar wie Fensterglas. Fasziniert strich sie über die glatte Fläche, um den vom Sturz daran hängen gebliebenen Schnee wegzuwischen. Plötzlich hielt sie inne, da sie meinte ein rötliches Licht in dem Eis gesehen zu haben. Rasch wischte sie noch den restlichen Schnee weg, um besser sehen zu können. Sie hatte sich nicht getäuscht. Etwas leuchtete ihr entgegen - genauso rot wie ihr Haar und ihr Stein, der noch stärker pulsierte. Elea versuchte angestrengt zu erkennen, was ihr aus dem Eis entgegenleuchtete. Je länger sie hinsah, desto deutlicher zeichneten sich die Umrisse einer Gestalt ab, einer riesigen Gestalt. Es war kein Mensch. Es war ein Tier. Und es hatte unverkennbar Ähnlichkeit mit dem Drachen aus ihrem Traum. Sie konnte jedoch mit absoluter Sicherheit ausschließen, dass es ihr Drache war. Ihr Drache hatte vier Hörner am Kopf, dieser nur zwei. Er muss noch leben, sonst würde er nicht mehr leuchten. Aber wie kann er das? Er ist im Eis eingefroren. Elea bewegte sich vorsichtig ein paar Schritte seitwärts auf ihrem Vorsprung entlang und wedelte mit ihren Fäustlingen weiter den Schnee von der Eiswand. Als sie freie Sicht in das Innere des Eises hatte, wich sie abrupt einen Schritt von der Wand zurück, so dass sie diesen beinahe ins Leere gemacht hätte. Sie konnte gerade noch ihr Gewicht auf dem Vorsprung verlagern. Nachdem sie sich von dem ersten Schreck erholt hatte, kam sie der Wand wieder so nahe, dass ihre Nasenspitze sie fast berührte. Mit angehaltenem Atem wagte sie nochmals einen Blick in das Innere. Sie sah direkt in ein fremdartiges Augenpaar, das nicht einmal eine Armlänge von ihr entfernt war. Diesmal waren es die Augen einer menschlichen Gestalt, die aber kein Mensch war. Sie konnte kaum glauben, was sie da sah. Die Gestalt ähnelte haargenau dem fremdartigen Mann, von dem Breanna ihr erzählt hatte und von dem sie vermutete, dass Maél von dessen Volk abstammte. Der Mann hatte langes, glattes, sehr helles Haar. Lange, spitze Ohren – wie Maél nach seiner Verwandlung – ragten hervor. Und die Augen standen genauso schräg, wie damals bei Maél. Außerdem hatte er auf grauenerregende Weise den Mund wie zu einem Schrei aufgerissen, sodass Elea sehr gut die langen Eckzähne erkennen konnte. Der Mann trug Kleider. Er hatte einen Bogen geschultert, hielt ein Schwert kampfbereit in der erhobenen Hand und ein zweites hing an seinem Gürtel. Eleas Herzschlag beschleunigte sich vor Aufregung.
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