Die Traene des Drachen
Hals fast verrenkte, weil sie den Blick von dem Kreuz nicht abwenden konnte. Sie konnte zwar nicht mit letzter Sicherheit sagen, was sie erkannt hatte. Aber sie hatte bereits eine dunkle Ahnung, die in ihr ein unvorstellbares Grauen auslöste. Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Sie musste sich unbedingt Gewissheit verschaffen. „Ich weiß, Arabín, es wird dir nicht gefallen, aber du musst noch einmal zurückfliegen und tiefer über die südliche Seite des Kreises fliegen, dort, wo der Schneehaufen endet. Irgendetwas Merkwürdiges spielt sich dort ab“, schrie sie gegen das laute Geheule des Windes um sie herum an. „Ich wusste, dass es soweit kommen würde“, knurrte seine tiefe Stimme in ihrem Kopf. Er wendete trotzdem in einem großen Kreis und flog immer tiefer werdend zurück zu der Stelle, die Eleas Aufmerksamkeit erregt hatte. Kurz bevor sie über die Menschengruppe flogen, sah Elea ihre Ahnung, was es mit dem Kreuz auf sich hatte, bestätigt. Ein Mensch lag auf dem Rücken mit zur Seite ausgestreckten Armen. „Flieg noch tiefer!“, befahl sie dem Drachen. Ihr Herz und ihr Atem standen für einige Augenblicke still. Es war Maél, der dort unten mit nacktem Oberkörper auf dem eiskalten Schnee lag. Arabín hatte die Gruppe bereits überflogen, als Elea Darrachs Gestalt ausmachte, die ganz nahe an Maéls Seite stand und einen Gegenstand über ihn hin und her bewegte, von dem diese seltsamen Lichtreflexe ausgingen. „Um Himmels Willen! Da liegt Maél im Schnee! Was macht Darrach nur mit ihm? – Arabín, flieg sofort zurück und kreise über sie, sodass ich besser sehen kann, was er mit ihm anstellt. Ich bitte dich, tu es!“ Eleas Stimme war nur noch ein flehendes Wimmern, das sogar ein Drachenherz erweichen konnte. „Elea, du brauchst mich nicht zu bitten. Ich muss dich aber warnen. Wenn Darrach stark genug ist, kann er uns vom Himmel holen, wenn wir zu nahe sind.“
„ Das Risiko müssen wir eingehen.“
Arabín flog ähnlich wie der Adler, der Elea den Weg zu ihm gewiesen hatte, in kleiner werdenden Kreisen immer tiefer – allerdings in viel rasanterer Geschwindigkeit. Sie waren bereits so tief, dass Elea einen blutigen, kreisförmigen Fleck auf Maéls Bauch erkennen konnte, der offenbar von dem blinkenden Gegenstand herrührte, den Darrach über seinen Bauch hielt. Elea begriff mit einem Schlag, was da gerade vor ihren Augen geschah. Ihre Narbe begann urplötzlich wieder diesen pochenden und brennenden Schmerz auszustrahlen. Es war derselbe Schmerz, den Maél in diesem Moment empfand und den er bei jeder einzelnen Narbe auf seinem Oberkörper und in seinem Gesicht in der Vergangenheit unter der Folter dieses grässlichen Mannes hatte ertragen müssen. Dieser Schmerz ging mit einer Übelkeit einher, die unaufhaltsam ihre Kehle hochkroch. Außerdem bekam sie trotz der bitteren Kälte, die auf Arabíns Rücken herrschte, Schweißausbrüche. Ihr Unterhemd klebte bereits auf ihrer Haut. Plötzlich drangen Worte zu ihren ihren Ohren vor, die Maél ihr zuschrie. Sie konnte sie jedoch nicht verstehen. „Arabín, kannst du verstehen, was er mir zuruft?“
„ Er will, dass du von hier verschwindest, und zwar auf der Stelle.“
Er kam der Oberfläche seines Bewusstseins immer näher. Sein Körper zitterte... Ein Zittern vor Eiseskälte. Doch dies war nicht die einzige Wahrnehmung. Gleichzeitig war da eine Hitze auf seiner Brust, die in einem Punkt auf seinem Bauch in einem unerträglichen Brennen gipfelte. Langsam schlug er die Augen auf. Als er sah, wo er sich befand und wer bei ihm stand, hätte er sich am liebsten wieder in den Zustand der Bewusstlosigkeit zurückgeflüchtet. Mit dem Anblick Darrachs und dem Stück Glas, das er in die Sonne hielt, um so ihre warmen Strahlen einzufangen und zu einem um ein Vielfaches stärkeren Strahl zu bündeln, kamen albtraumhafte Kindheits- und Jugenderinnerungen wieder hoch. Trotz der eisigen Kälte, die Haut und Muskeln auf dem Rücken taub werden ließ, brach Maél durch die aufsteigende Panik der Schweiß aus. Der Schmerz auf seinem Bauch wurde immer stärker. Bisher hatte er noch keinen Laut von sich gegeben, wohingegen als Kind oder Jüngling er schon längst vor Schmerz geschrien und den Zauberer um Gnade angefleht hatte. Diese Genugtuung beabsichtigte er, diesmal seinem Peiniger nicht zu bereiten. Er versuchte, sich von dem Schmerz abzulenken, indem er darüber nachsann, wie lange er wohl geschlafen hatte. Nach Darrachs eiskaltem und wissendem
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