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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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unschuldige Mädchen dort unten wohl erdulden mussten! Unschuldige Mädchen wie Gertrud. Sie schluckte, wischte mit dem Ärmel die Tränen weg und machte sich an den Abstieg.
    Durch die Luke fiel genug Licht herein, dass sie ihre Umgebung erkennen konnte. Sempach hatte nicht gespart: Wachslichter waren in Haltern an den Wänden angebracht, sehr kostspielig, aber sinnvoll, denn Talglampen rußten zu viel. Ein mit Schnitzereien versehenes Bett stand in der Mitte des Raumes, rechts und links davon jeweils ein Scherenstuhl. Eine Truhe mit schweren Verschlägen duckte sich in eine Ecke, auf einem hüfthohen Fass standen ein Weinkrug und zwei Becher. Das Bettzeug duftete frisch, aber der Geruch des Todes hing in jeder Ritze der Kammer. Dieser Ort stand Esslingens Folterkeller in nichts nach.
    Bis auf die wenigen Einrichtungsgegenstände war das Versteck leer. Keine Spur von Gertrud. Wieder schossen Melisande die Tränen in die Augen Sie war so sicher gewesen, dass Sempach ihre Tochter hier versteckt hielt. Doch offenbar hatte sie ihn falsch eingeschätzt. Wenn er tatsächlich wusste, wer sie war, dann war ihm auch klar, dass sie über seine dunklen Geschäfte unterrichtet war und überall suchen würde, wo sie seine Verstecke vermutete. Sie stöhnte auf.
    »Liebste Gertrud, verzweifle nicht«, flüsterte sie. »Ich finde dich.«
    Sie ließ den Blick noch einmal durch die Kammer schweifen. Wenn ihre Tochter schon nicht hier war, so wollte sie wenigstens alles genau durchsuchen. Vielleicht fand sich ja eine Spur oder etwas, womit sie Sempach unter Druck setzen konnte. Das Versteck allein reichte nicht. Es war nicht verboten, sich in einer Scheune eine versteckte Kammer einzurichten. Sempach würde nur lachen und behaupten, es sei ein Unterschlupf für den Fall, dass die Stadt von Feinden überrannt würde. Sie brauchte mehr.
    Melisande schnupperte an den Krügen, konnte aber nichts Besonderes feststellen, und schaute unter das Bett, wo sie lediglich eine verängstigte Maus aufschreckte. Dann wandte sie sich der Truhe zu, die zu ihrer Überraschung nicht verschlossen war. Der Deckel ließ sich mühelos anheben, doch vor Schreck hätte sie ihn beinahe sofort wieder fallen gelassen. Über ihr tappte es, als ginge ein Mensch über den Boden der Scheune. Sie hielt die Luft an und lauschte, aber nur das Trommeln des Regens war zu hören. Sie schlich zur Sprossentreppe, spähte hinauf. Nichts. Vorsichtig stieg sie hoch. Die Scheune war leer. Melisande wischte sich den Schweiß von der Stirn und stieg wieder hinab. Ihre Nerven spielten verrückt, das war alles. Hastig untersuchte sie den Inhalt der Truhe. Bettlaken und Tücher, nichts weiter. Sie warf alles wieder hinein und wandte sich ab.
    Sie ließ den Blick noch einmal durch den kleinen Raum schweifen. Sempach war nicht dumm. Es war schlau, ein Versteck in einer Scheune zu wählen, die von jedermann einzusehen und deshalb völlig unauffällig war. Eine harmlose Scheune. Und in ihr eine harmlose Truhe voller Wäsche.
    Das ist es!
    Sie stürzte zur Truhe, kniete nieder und hob sie vorsichtig ein Stück an. Nichts war darunter. Dafür gab die Truhe einen seltsam hohlen Klang von sich, als Melisande sie wieder absetzte. Natürlich! Die Truhe musste ein Geheimfach haben. So wie die Scheune die Kammer verbarg, verbarg die Truhe etwas anderes! Sie riss die Wäsche heraus, tastete den Boden ab, klopfte auf die Bretter, steckte die Klinge ihres Messers in jede Ritze. Nichts und wieder nichts. Aber es musste doch … Sie trat drei Schritte zurück und betrachtete die Truhe. Irgendetwas stimmte nicht. Doch was?
    »Vergiss alles«, murmelte sie. »Versuch, die Truhe zu betrachten, als hättest du noch nie zuvor eine gesehen.« Sie kniff die Augen zusammen. Das Bild der Truhe verschwamm, und da erkannte sie es: Das Geheimnis lag nicht in der Truhe selbst, sondern in ihrer Einfassung. Die Kanthölzer, die die Bretter zusammenhielten und zugleich die Füße bildeten, waren viel zu groß. So groß, dass man ohne Weiteres etwas in ihnen verstecken konnte.
    Mit einem Ruck stürzte Melisande die Truhe auf die Seite. Ihr Messer fuhr von unten in den ersten Fuß wie in ein Stück Butter. Mit gefärbtem Wachs war das Kantholz verschlossen. Schnell entfernte sie das Wachs und zog eine Pergamentrolle aus dem hohlen Innenraum.
    Mit zitternden Fingern entrollte sie das Pergament. Sie hatte immer schon gewusst, dass Sempach ein ordentlicher Mensch war, und das sollte sich jetzt rächen. Minutiös hatte

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