Die Tränen der Henkerin
sie ihn nicht hatten kontrollieren können. Eine Meile von Rottweil entfernt riss er an den Zügeln, dass sein Pferd vor Schmerz wieherte. Er sprang aus dem Sattel, zog das Schwert und hieb auf einen Baum ein, bis er den Arm erschöpft sinken lassen musste.
Auch jetzt war es Meister Oswald, der ihm beistand. »Ihr seid sicherlich durstig, Herr.« Er nahm ihm die Klinge aus der Hand und reichte ihm den Wasserschlauch.
Erhard trank gierig. »Danke, mein Guter. Wenigstens eine Seele, die zu mir hält.« Er gab dem Waffenmeister den Schlauch zurück. »Was soll ich nur tun? Kannst du mir einen Rat geben?«
Oswald nickte. »Ich weiß nicht, ob ich Euch raten kann, doch ich weiß, was ich an Eurer Stelle tun würde.«
Erhard sah ihn an. »Ich höre, Meister Oswald.«
***
Auf der Pliensau hatte sich nichts verändert. Felder, die jetzt bereits abgeerntet waren, ein paar Handwerkerhäuser, ein paar Bauernhäuser, die immer noch so windschief standen, wie vor ihrer Flucht. Unmittelbar hinter der Inneren Brücke lag rechts von der Straße der große Rossmarkt, danach folgte die Gasse der Metzger, aus der der Geruch von Wurst und frischem Blut herüberwehte. Ganz am Ende dieser Gasse, unmittelbar an der Stadtmauer stand das Henkerhaus, zu weit entfernt, als dass Melisande es hätte sehen können. Sie lief die breite Hauptstraße entlang, die zum Mühlentor führte, und bog dann in die winzige Gasse, an deren Ende die Wiese mit der Scheune lag. Gut sichtbar erhob sich das Gebäude vor ihr, umgeben von nackten Äckern. Es gab keine Möglichkeit, sich unbemerkt heranzuschleichen. Melisande schüttelte verständnislos den Kopf. Was für eine ungewöhnliche Wahl für ein Versteck! Offenbar wickelte Sempach seine widerlichen Geschäfte nur des Nachts ab – oder die Kunden und ihre Opfer kamen versteckt in Wagen oder Kisten.
Melisande schaute hinauf in den Himmel. Dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben; bald würde es regnen. Ein Regenschleier war auch ein guter Deckmantel, fast so dicht wie die Schwärze der Nacht. Sie hockte sich hinter einen Karren und wartete. Glücklicherweise herrschte in der Gasse nicht viel Betrieb. Die Bewohner der Häuser gingen wohl alle ihren täglichen Geschäften nach, niemand schien sie bemerkt zu haben. Ob sie es schon jetzt wagen sollte? Was, wenn der Regen auf sich warten ließ? Was, wenn Gertrud in dieser Scheune hungerte oder fror?
Vorsichtig kroch Melisande hinter dem Karren hervor. Keine Menschenseele war zu sehen. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel und rannte los. Es waren nur wenige Schritte bis zu der Scheune. Ohne zu zögern, entriegelte sie die kleine Seitentür und schlüpfte ins Innere. Hoffentlich hatte Sempach keine Wache aufgestellt!
Sie hielt einen Augenblick inne und lauschte.
Alles war still. Gedämpft drangen Geräusche von draußen in die Scheune, das Blöken eines Schafs, ein Hämmern, das Brüllen eines Mannes, der seinen Knecht zurechtwies. Langsam entspannten sich Melisandes Glieder. Sie blickte sich im Dämmerlicht um. Die Scheune schien nicht genutzt zu werden. Nur ein paar Bretter lagen herum und ein Rest fauliges Heu. Ein alter Leiterwagen drückte seine Räder in den Staub. Vom Dach her begann es, leise zu pochen. Es war so weit. Der Regen hatte eingesetzt.
Melisande schritt die Scheune ab. Irgendwo musste es doch einen Zugang zu der geheimen Kammer geben, von der Petter gesprochen hatte! Prüfend ließ sie ihren Blick über die wenigen Gegenstände gleiten. Als sie wieder bei dem Leiterwagen war, stutzte sie. Die dicke Staubschicht, die alles andere bedeckte, schien um die Räder herum verwischt zu sein. Zudem sah die Deichsel aus, als würde sie oft angefasst. Sie griff danach und zog.
Die Räder leisteten keinen Widerstand. Mit wenigen Schritten bugsierte Melisande den Wagen auf die andere Seite der Scheune. Darunter kamen einige Bretter zum Vorschein, die wie zufällig auf dem Boden lagen. Melisande bückte sich und versuchte, eins anzuheben. Es ging ganz leicht. Sie griff nach dem nächsten. Ein Loch tat sich auf, Staub rieselte hinab in die Dunkelheit. Das nächste Brett legte eine einfache Sprossentreppe frei. Sie hatte das Versteck gefunden.
Melisande wagte kaum zu atmen. Ein seltsamer Geruch schlug ihr entgegen, ein wenig so, wie sie es aus der Folterkammer kannte: eine Mischung aus Schweiß, Angst und Elend. Ihr Herz krampfte sich zusammen, und sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Welches Leid
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