Die Tränen der Henkerin
führen. Auf einmal saß sie auf heißen Kohlen. Sie musste ohnehin sehen, dass sie fortkam, denn jeden Augenblick konnte der echte Meister Rogwald auftauchen und sie enttarnen. »Nun gut«, sagte sie daher. »Aber nicht länger als drei Tage. Ich will hier keine Wurzeln schlagen.«
»Nur zu richtig, Herr.« Petter sah sie lauernd an. »Wenn Ihr mir jetzt noch verraten wollt, wo ich Euch finde, wenn die Ware bereit ist?«
Melisande erhob sich, ihr Bier hatte sie nicht angerührt. »Im ›Eichbrunnen‹«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Ihr findet mich im ›Eichbrunnen‹.« Sie erhob sich. Hoffentlich war sie bereits fort, wenn Petter nach seinem Kunden fragte und feststellen musste, dass kein Meister Rogwald dort wohnte. Und hoffentlich begegnete sie ihm nicht zufällig irgendwo, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie nicht derjenige war, für den sie sich ausgegeben hatte.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, stürmte sie hinaus auf die Gasse. Fast wäre sie mit einem Mann zusammengestoßen, der soeben die Tür zum »Alten Landmann« öffnen wollte. Er war feist, seine Schweinsäuglein musterten sie missbilligend. Ebenso wie sie war er für eine Kaschemme wie diese zu fein gekleidet. War er der echte Meister Rogwald? Melisande hatte nicht den Wunsch, es herauszufinden. So schnell sie konnte, hastete sie auf den Marktplatz zu und mischte sich unter die Kauflustigen.
***
Es war kaum Mittag, als Erhard und Meister Oswald in Rottweil eintrafen. Sie hatten die Pferde nicht geschont und waren die ganze Nacht ohne Rast durchgeritten. Ungeduldig ließ Erhard die Prozedur am Stadttor über sich ergehen. Die Wachen schienen noch pingeliger zu sein als sonst. Ein kleines Mädchen werde gesucht, sagte einer, als könnte er Erhard damit beruhigen. Tölpel! Dachte er etwa, der Entführer wolle das Kind in die Stadt hineinschmuggeln? Er sollte sich lieber um die Leute kümmern, die Rottweil verließen!
»Ihr erzählt mir nichts Neues«, herrschte er die Wache an. »Es ist meine Enkeltochter, die entführt wurde. Aus ebendiesem Grund bin ich angereist. Und, wie Ihr Euch denken könnt, ich habe keine Zeit zu verlieren. Also lasst mich endlich durch!«
Der Wachmann verbeugte sich erschrocken. »Selbstverständlich, Herr.«
»Wurde aber auch Zeit«, knurrte Erhard und lief mit weit ausholenden Schritten voran. Zu seinem Ärger herrschte auf den Straßen so viel Gedränge, dass er und Oswald die Pferde führen mussten. Als sie endlich am Haus seines Sohns angelangt waren, reichte Erhard die Zügel seines Pferdes an Oswald weiter und klopfte an die Tür. Noch bevor seine Faust ein zweites Mal auf das Holz getroffen war, riss Katherina sie auf. Ihre Augen waren gerötet, das Gesicht aufgedunsen. Ihr Anblick schmerzte Erhard. Er trat auf sie zu, wollte sie in die Arme nehmen, aber sie machte einen Schritt rückwärts und funkelte ihn an.
»Was willst du denn hier?« Ihre Stimme klang rau.
Erhard schluckte seinen Ärger herunter. Seine Frau hatte guten Grund, erbost zu sein. Er hatte seinen Sohn schändlich im Stich gelassen, hatte es für wichtiger erachtet, seine Schwiegertochter zu verfolgen. »Ich habe von Gertrud gehört«, sagte er ruhig. »Wo ist Wendel? Er braucht mich jetzt. Ich möchte ihm beistehen in dieser schweren Stunde.«
Katherina blinzelte, Erhard konnte nicht sagen, ob es Misstrauen war, oder ob sie Tränen unterdrückte. »Komm herein.« Sie trat zur Seite, blickte an ihm vorbei und entdeckte seinen Begleiter. »Oh, Meister Oswald. Verzeih, ich habe dich gar nicht gesehen. Sei gegrüßt, und tritt ebenfalls ein.« Sie wandte sich um. »Berbelin! Bring Wein, Käse und Brot. Michel! Kümmere dich um die Pferde!«
»Habt Dank, Herrin.« Oswald legte eine Faust an die linke Brust. »Es tut mir so leid. Aber seid gewiss: Wir werden Gertrud finden. Gesund und munter.«
»So Gott will, Meister Oswald.«
Wenige Augenblicke später standen Speis und Trank auf dem Tisch. Oswald setzte sich, nahm einen großen Schluck von dem Wein und aß voller Appetit, doch Erhards Kehle war wie zugeschnürt. Er nippte nur einmal im Stehen an seinem Becher, um den Straßenstaub aus dem Mund zu spülen. »Wo ist Wendel, Katherina?«, fragte er. »Ich muss mit ihm sprechen, ihn um Verzeihung dafür bitten, dass ich ihm so ein schlechter Vater war.«
»Er ist nicht hier.« Auch sie hatte sich nicht gesetzt.
Erhard seufzte. »Wo steckt er? Was macht er?«
»Das einzig Richtige: Er sucht seine Tochter.« Sie verschränkte die
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