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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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der Ratsherr sämtliche Einnahmen aus seinen Geschäften aufgelistet. Sogar die Namen der Opfer hatte er eingetragen und ihre besonderen Eigenschaften. Melisande stockte der Atem. Was für ein Ungeheuer! Von samtener Haut im Wert von zehn Pfund Silber war da die Rede, von vergoldeter Jungfräulichkeit und erlesenen Früchten, die nackt und unschuldig nur gepflückt werden mussten.
    Melisande kämpfte die aufsteigende Panik nieder. Sie durfte auf keinen Fall daran denken, was Gertrud in den Händen dieses Ungeheuers widerfahren konnte, sonst war sie nicht mehr Herrin ihres Verstandes. Und sie brauchte ihren Verstand, um ihre Tochter zu retten. Sie rollte das Pergament zusammen und untersuchte die anderen Kanthölzer, die sich aber als leer erwiesen. Also hatte sie nur dieses eine Beweisstück, und selbst das war nicht so eindeutig, dass es Sempach überführte. Aber es sollte genügen, um erheblichen Zweifel an seiner Rechtschaffenheit aufkommen zu lassen. Am besten wäre es, ihn auf frischer Tat zu ertappen. Doch das war nicht ihre Aufgabe, sondern die des Esslinger Rates. Sie würde ihm das Dokument überreichen. Allerdings erst, wenn ihre Tochter außer Gefahr war.
    Eilig richtete sie die Truhe wieder her, stieg hinauf und verdeckte den Einstieg mit den Brettern. Zum Schluss zog sie den Wagen an seine Stelle.
    Auf dem Weg zu ihrer Herberge blickte Melisande sich immer wieder um, doch niemand schien ihr zu folgen. Der Regen hatte nachgelassen, nur noch vereinzelte Tropfen fielen vom Himmel. Was sie in der geheimen Kammer gesehen hatte, ließ ihr keine Ruhe. Am liebsten wäre sie sofort zum Rat gelaufen, damit der Sempach das Handwerk legen konnte. Doch das durfte sie nicht tun. Sie durfte Gertrud keinesfalls in Gefahr bringen, indem sie Sempach in die Ecke drängte.
    Im »Schwarzen Bären« fragte sie nach jemandem, der in Richtung Rottweil reiste. Man verwies sie an einen Boten der Heilbronner Kaufmannsgilde, der unterwegs war zum Bodensee und in Rottweil haltmachen wollte. Rasch verfasste sie einen kurzen Brief, gab ihn zusammen mit Sempachs Pergament dem Boten und beschrieb ihm das Haus, wo er beides abgeben sollte.
    Als das erledigt war, lehnte Melisande sich erleichtert zurück.
    »Bringt mir eine Suppe«, bat sie den Wirt. Zwar verspürte sie kaum Hunger, doch es wäre unklug, den nächsten Schritt mit leerem Magen zu tun. Während sie aß, überlegte sie, wie sie weiter vorgehen sollte. Einfach bei Sempach einzubrechen war gefährlich. Andererseits wusste sie nicht, wie sie sonst an Informationen kommen sollte. Wie gern hätte sie Wendel jetzt an ihrer Seite! Wie mochte es ihm ergangen sein, als er die Nachricht aus Sulz erhalten hatte? Glaubte er ihr? Begriff er, in welcher Gefahr Gertrud schwebte? Oder hielt auch er sie für Gertruds Entführerin? Ein Stich fuhr ihr ins Herz. Wäre er doch bei ihr! Gemeinsam würden sie ihre Tochter retten. Gemeinsam waren sie unbesiegbar.
    Als sie den Rest Suppe mit einem Stück Brot aufsaugte, ließ ein lautes Summen sie zusammenschrecken. Über ihr an einem Balken zappelte eine Fliege im Netz einer Spinne. Die Spinne wartete eine kleine Weile, sie wollte wohl sichergehen, dass die Fliege auch wirklich festsaß. Dann plötzlich, so schnell, dass Melisande kaum mit den Augen folgen konnte, griff die Spinne ihr Opfer an, betäubte es, wickelte es ein und ließ es an einem Faden zappeln. Nach getaner Arbeit begab sie sich gemächlich zurück in die Mitte des Netzes und machte es sich bequem, ganz so, als wäre nichts geschehen.
    Melisande schloss die Augen. Die Fliege, die sich in das Reich der Spinne wagt, kommt darin zu Tode. Das war ein schlechtes Zeichen. Sollte sie den Plan, bei Sempach einzubrechen, fallen lassen? Oder war sie die Spinne und Sempach die Fliege? Er hatte sich in ihr Leben gedrängt, nicht umgekehrt.
    Mit einer fließenden Bewegung stand sie auf, steckte ihr Messer in den Schaft ihres rechten Stiefels und trat vor den »Schwarzen Bären«. Draußen auf der Bindergasse war es ruhiger geworden. Es dämmerte bereits. Jetzt würde sich herausstellen, wer die Fliege und wer die Spinne war.
***
    Wendel blickte den Abhang hinunter auf die Stadt, die zu seinen Füßen lag, Aichaha am Neckar, im gestreckten Galopp kaum mehr als drei Stunden von Esslingen entfernt. Feuchter Dampf stieg aus dem Tal auf, eine Folge des Regens, der vor einer Weile auf das Neckartal niedergepeitscht war. Inzwischen funkelte die Abendsonne wieder zwischen den grauen Wolken hervor, doch

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