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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Haus!«
    Sempach gehorchte ohne Widerstand, er wirkte benommen, schien nicht so recht zu begreifen, was mit ihm geschah. Er roch nach einer Mischung aus Lavendel, Zitronenmelisse und Rotwein, also war er vermutlich im Badehaus gewesen.
    Im Inneren des Hauses war nichts zu hören. Offenbar schliefen die übrigen Bewohner. Melisande hoffte, dass es so blieb, denn sie hatte nicht vor, mehr Gewalt anzuwenden, als unbedingt nötig war. Sie schob mit dem Fuß die Haustür zu und dirigierte Sempach durch einen Korridor in eine kleine Kammer, eine Art Schreibstube. Dort drückte sie ihn auf einen Stuhl, stopfte ihm ein zerknülltes Pergament in den Mund, damit er nicht schreien konnte, und knotete die Ärmel seines Mantels auf dem Rücken zusammen. Das musste ausreichen, bis sie etwas Besseres gefunden hatte, um ihn zu fesseln.
    Fieberhaft blickte sie sich um. Sempach war inzwischen aus seiner Erstarrung erwacht. Er würgte an dem Knebel und wand seinen Oberkörper, um sich aus dem Mantel zu befreien. Keine Zeit, eine Fessel zu suchen. Melisande griff nach einem schweren Tintenfass aus Ton und ließ es auf Sempachs Schädel niedersausen. Es zersprang, der große Mann sank mit einem leisen Seufzer in sich zusammen. Aus der Wunde am Kopf sickerte glücklicherweise nur wenig Blut, und das Fass war leer gewesen, ansonsten wäre Melisande von oben bis unten mit schwarzer Tinte befleckt gewesen.
    Sie überlegte. Sollte sie zuerst das Haus durchsuchen? Oder sollte sie gleich bei Sempach anfangen, versuchen, ihn zum Reden zu bringen? Vermutlich würde es ausreichen, ihn daran zu erinnern, wer sie war und wie geschickt sie als der Henker Melchior die armen Sünder ans Reden bekommen hatte, um die Worte nur so aus ihm heraussprudeln zu lassen. Aber er war bewusstlos, sie müsste ihn wieder aufwecken, und wenn er wach war, konnte er um Hilfe rufen.
    In dem Augenblick hörte sie ein Geräusch, das aus einem der oberen Stockwerke zu ihr herunterdrang. Ein Geräusch, das sie nur zu gut kannte. Ein kleines Kind greinte. Gertrud! Das musste Gertrud sein! Sempach hatte keine kleinen Kinder, nur drei erwachsene Töchter. Gertrud! Sie lebte! Melisande rannte aus der Kammer auf die Treppe zu. Er hat sie tatsächlich bei sich zu Hause versteckt, schoss es ihr durch den Kopf. Wie leichtsinnig! Er muss sich für unbesiegbar halten.
    Sie folgte dem Weinen bis vor eine Kammer. Fast hätte sie die Tür einfach aufgestoßen und wäre zu ihrer Tochter gestürmt. Doch sie musste vorsichtig sein. Vielleicht war Gertrud nicht allein. Behutsam schob sie die Tür einen Spalt auf, das Messer stoßbereit in der Hand. Im Zimmer brannte kein Licht. Als Melisandes Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie eine Wiege und eine Truhe, keine weiteren Möbelstücke. Außer dem Kind in der Wiege schien niemand im Zimmer zu sein.
    Melisande rannte zu der Wiege und riss die Decke weg. Gleichzeitig bemerkte sie zweierlei: Das Kind war nicht Gertrud, und es war noch jemand im Raum. Das letzte, das sie wahrnahm, waren ein Schlag auf den Kopf und ein jäher Schmerz.

D IE
F LUCHT
    Als Erhard Füger die Stadt im Morgennebel vor sich liegen sah, erfasste ihn grimmige Entschlossenheit. Hier würde er die Wahrheit herausfinden. Was auch immer das für ihn und seine Familie bedeuten mochte. So oder so würden sie bald Gewissheit haben. Es war Samstag, und auf den Landstraßen um Urach herrschte bereits reges Treiben. Vor einem der Stadttore war ein Wagen im Schlamm stecken geblieben, und bis zu seinem Aussichtspunkt konnte Erhard die Flüche der Reisenden hören, die sich an dem Gefährt vorbeidrängen mussten. Auch ihnen hatte der Regen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hatte die Wege in schmierige Rutschbahnen verwandelt, sodass sie nicht schneller als im Schritt vorwärtsgekommen waren. Oft hatten sie sogar absteigen und die Pferde an den Zügeln führen müssen. Bis auf die Haut durchnässt hatten sie in einer leer stehenden Köhlerhütte die Nacht verbracht und waren im Morgengrauen wieder aufgebrochen.
    Trotz der Strapazen der Reise fühlte Erhard keinerlei Müdigkeit, im Gegenteil, er war so wach wie lange nicht mehr. Seit dem Streit mit Katherina war eine seltsame Klarheit über ihn gekommen. Er durfte Wendel nicht länger gram sein dafür, dass er die Frau geheiratet hatte, die er liebte. Dass sich diese Frau als Mörderin, Betrügerin und Kindsentführerin herausgestellt hatte, war schlimm, doch es war nicht Wendels Schuld. Er war

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