Die Tränen der Henkerin
sie stand bereits tief. Zeit, sich ein Nachtlager zu suchen, auch wenn er am liebsten noch heute bis nach Esslingen durchgeritten wäre.
Das Vernünftigste wäre, in Aichaha ein Gasthaus zu suchen, doch alles in Wendel sträubte sich gegen menschliche Gesellschaft. Derbe Scherze und übermütiges Lachen waren das Letzte, was er hören wollte. Beides wäre nur zu überbieten von Geschichten über eine vom Teufel besessene rothaarige Hexe aus Rottweil, die sieben Männer getötet und ein Kind entführt hatte, um es bei lebendigem Leib zu verspeisen. Diese Schauermär hatte ihm und Antonius gestern Abend ein fahrender Kesselflicker erzählt, und es hatte Wendel ungeheure Beherrschung gekostet, dem Kerl nicht den Hals umzudrehen.
Ihre Reise stand überhaupt unter einem schlechten Stern. Eigentlich hätten sie längst in Esslingen sein müssen, doch gestern war Wendels Pferd gestrauchelt, kurz nachdem sie aufgebrochen waren, und hatte sich am Bein verletzt. Es konnte noch laufen, doch keinen Reiter mehr tragen. Also hatten sie zu Fuß bis zu einem Gutshof weiterlaufen müssen, wo der Verwalter nach zähen Verhandlungen das verletzte, wertvolle Tier gegen eine gesunde, aber alte und sture Mähre ausgetauscht hatte. Antonius hatte über den schlechten Tausch geflucht, doch Wendel hatte ihn beschwichtigt. Es war immer noch besser, langsam zu reiten, als zu Fuß weiterzuziehen. Doch sie hatten wertvolle Zeit verloren und es nur mit Mühe bis Rottenburg geschafft. Dort hatten sie versucht, ein besseres Pferd zu bekommen, doch das Geld, das Wendel mit sich führte, reichte nicht aus – zumindest nicht, wenn sie noch etwas übrig behalten wollten für Unterkunft, Wegzehrung und derlei Ausgaben.
Wendel seufzte. Er hatte keine Ahnung, was ihn in Esslingen erwartete, und was er in der Vergangenheit in dieser Stadt erlebt hatte, trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Es kostete ihn ungeheure Kraft, gegen die schrecklichen Bilder in seiner Erinnerung und die dumpfe Angst anzureiten, die ihn von innen her aufzufressen schien.
Antonius gesellte sich zu ihm. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch in die Stadt, bevor die Tore schließen.«
»Ich bleibe heute Nacht lieber ohne Gesellschaft«, gab Wendel zurück.
»Der Wald ist voller Gefahren«, hielt Antonius dagegen. »In der Stadt seid Ihr Euch nur selbst gefährlich.«
Wendel sah seinen Leibwächter an. »Eben. Eine schlimmere Gefahr gibt es nicht.«
Antonius zuckte mit den Schultern. »Wie Ihr meint, Herr. Dann lasst uns einen Lagerplatz suchen, bevor es ganz dunkel ist.« Er saß ab und führt sein Pferd über einen schmalen Trampelpfad ins Unterholz.
Wendel folgte seinem Beispiel, so gut es ging. Die bockige Mähre weigerte sich, den bequemen breiten Weg zu verlassen, und Wendel musste sie mit einer Mohrrübe locken, die er in der Satteltasche mitgeführt hatte.
Unweit eines kleinen Baches blieb Antonius stehen. »Lasst uns hier lagern, Herr.«
Wendel nickte wortlos. Das dichte Gebüsch bot einen guten Schutz für die Nacht. Hier würde sie niemand entdecken. Noch lange, nachdem Antonius eingeschlafen war, starrte Wendel hinauf in die Sterne, die zwischen dem schwarzen Laub hervorblitzen. Was war er nur für ein Hornochse gewesen! Ein einfältiger, blinder Hornochse! Doch damit war jetzt Schluss. Er würde Melissa – oder Melisande, wie er sie von nun an eigentlich nennen sollte – zu Hilfe eilen. Gemeinsam würden sie ihre Tochter retten. Wenn es nur noch nicht zu spät war!
***
Der Nachtwächter war bereits zweimal an Melisandes Versteck vorbeigekommen, als sie schwere Schritte hörte, die vom Kosbühel her näher kamen. Eine Gestalt tauchte auf. Sempach!
Melisandes Gedanken überschlugen sich. Wenn es ihr gelang, ihn zu überrumpeln, würde sie ohne Schwierigkeiten ins Haus gelangen. Das war viel leichter, als den Laden zu entfernen und durch das Fenster zu klettern. Und vor allem ging es schneller. Zwar war es nicht ungefährlich, sich mit dem breitschultrigen Mann anzulegen, doch sie hatte das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Und nicht nur das: Sempach war wankend vor dem Haus stehen geblieben und fingerte ungelenk an seinem Gürtel herum; offenbar hatte er getrunken.
Langsam bückte Melisande sich und zog das Messer aus dem Stiefel. Lautlos schlich sie näher. Sie erreichte Sempach in dem Augenblick, als dieser den Schlüssel umdrehte und die Tür aufstieß. Entschlossen packte sie ihn am Mantel und setzte ihm das Messer an die Kehle. »Los! Ins
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