Die Tränen der Henkerin
könnte?« Wütend stieß Sempach ihn von sich weg.
Petter wurde weiß wie eine frisch gekalkte Wand. »Verzeiht, Herr, dass ich so …«
»Ja, ja, schon gut.« Sempach bemühte sich um einen gefassten Tonfall. Er durfte nicht die Beherrschung verlieren. Und er durfte seinen Handlanger nicht gegen sich aufbringen, sonst hatte er ein weiteres Problem. Außerdem hatte Petter ihm bisher immer gute Dienste geleistet. Und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass auch er auf das Possenspiel dieser Metze hereingefallen war. Wenn sie in der Lage war, einen Konrad Sempach zu täuschen, dann war ein Einfaltspinsel wie Petter leichte Beute für sie.
Er hatte dem Burschen großmütig verziehen, woraufhin dieser sich dankbar vor ihm auf die Knie geworfen hatte. Dann hatte er ihn losgeschickt, den echten Meister Rogwald zu informieren, dass es im Augenblick einen Engpass gebe und er heimreisen und dort auf Nachricht warten solle. Als Petter fort war, hatte Sempach sich mit einem Krug Wein in seine Schreibkammer eingeschlossen und die ganze Nacht über einem Plan gebrütet, wie er das rothaarige Miststück im Kerker für immer loswerden konnte.
Schwere Schritte kündigten an, dass sich jemand dem Versteck näherte. Das musste Ekarius sein. Und tatsächlich hangelte sich der Henker einen Augenblick später die Sprossentreppe herunter und blieb prustend vor Sempach stehen. »Herr, hier bin ich, Ihr habt nach mir rufen lassen?«
»Irgendjemand hat unser Geheimnis verraten. Diese Metze, die du gerade in den Fingern hast, war hier und hat unsere Liste gefunden.«
Ekarius brach der Schweiß aus. Er kratzte sich am Kopf, wobei Tropfen durch die Luft flogen.
Sempach sprang drei Fuß nach hinten. »Bist du des Teufels, du hirnloser Fleischberg? Behalte deine Ausdünstungen bei dir, oder willst du mich verunreinigen?«
Ekarius erstarrte, dann fuhr er sich vorsichtig mit dem Ärmel über die Stirn. »Verzeiht, Herr …«
»Halt’s Maul! Wir haben ein Problem. Ich darf nicht mehr in den Kerker, aber du. Diese Metze muss sterben, und zwar schnell. Sonst baumeln wir alle bald an deinem Strick.«
»Aber wie …«
»Halt’s Maul!«, wiederholte Sempach. Speichel sprühte aus seinem Mund. »Du sollst nicht denken, du sollst nur genau das tun, was ich dir sage.«
Ekarius nickte.
Sempach reichte ihm eine Phiole. »Das ist Eisenhut. Misch ihr das unters Essen. Dann ist unser Problem erledigt. Ich habe keine Lust, mir ein neues kleines Paradies zu bauen. Aber wir dürfen es einige Zeit nicht nutzen. Bis diese Hexe tot ist, können wir keine Kunden empfangen und keine Mädchen hier verstecken, ist das klar? Und die Sachen müssen rausgeräumt werden. Nur für den Fall, dass sie plappert und jemand auf die Idee kommt, nachzusehen. Verflucht! Ich hasse dieses Weibsstück!«
»Herr …« Ekarius senkte den Kopf.
»Was?« Sempach zitterte vor Wut. Wann hörte seine Pechsträhne endlich auf?
»Die Mädchen aus dem Schwarzwald … Sie müssten bald ankommen. Ich warte jeden Tag auf Nachricht.«
Sempach warf ihm einen Beutel zu. »Bezahl die Ware, und bring sie irgendwo außerhalb von Esslingen unter. Applonia soll dir helfen. Und jetzt mach schon, schick deine Knechte her, sie sollen das Bett und die Truhe hier herausschaffen.«
»Ja, Herr.« Mühsam kletterte Ekarius die Sprossen hinauf.
Wie so oft, wenn Sempach den fetten Henker betrachtete, drängte sich ihm der Vergleich mit Ekarius’ Vorgänger Melchior auf. Er seufzte tonlos. Wie viel verständiger war er gewesen. Wie viel geschmeidiger hatte er sich immer bewegt. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. Jetzt wusste er, wo er diesen Mann, der eigentlich eine Frau war, schon einmal gesehen hatte. Und nicht nur gesehen. Sie hatten zusammengearbeitet im Kerker von Esslingen, hatten gemeinsam Verbrechern Geständnisse entlockt. Ja, so ergab es Sinn. Verflucht noch eins! Deshalb wusste diese Hexe von seinen Geschäften.
Sempach schoss die Hitze in alle Glieder. Melchior! Wie oft hatte er die zarten, schlanken Finger des Henkers bestaunt, die Kunstfertigkeit genossen, mit der sie mit den Werkzeugen hantierten!
Er schnaufte, Schweiß lief ihm über das Gesicht. Der Teufel sollte ihn holen! Der Henker von Esslingen war ein Weib gewesen. Eine rothaarige Hexe, eine Teufelin. Und jetzt musste sie sterben.
***
Es regnete schon wieder, als Erhard und seine Männer am Dienstag um die Mittagszeit in Speyer eintrafen. Sie stiegen in der Herberge »Zum Ochsen« ab, dankbar für
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