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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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jedes Missverständnis ausschlossen. Erhard schluckte schwer, als er weiterlas. Godehards Vater musste ein Ungeheuer gewesen sein, das seine Frau und seinen Sohn fast täglich windelweich geprügelt hatte. Der arme Bursche hatte seine Mutter schützen wollen. Rasch steckte Erhard das Geständnis ein. Das musste niemand sonst zu Gesicht bekommen.
    Das nächste Pergament enthielt nichts als Zahlen, Kolonnen von Zahlen; ein anderes war bedeckt von winzigen Dreiecken; wieder ein anderes war schlicht leer, bis auf einen Satz: »Herr, vergib mir!«
    »Herr!«
    Erhard schreckte hoch.
    »Verzeiht, Herr.« Oswald kniete vor ihm, den Kopf hochrot, in der Rechten hielt er ein Pergament. Zum ersten Mal in seinem Leben sah Ehrhard den alten Kämpen vor Aufregung zittern.
    »Lest selbst!«
    Erhard nahm den Bogen so vorsichtig in die Hand, als sei er vergiftet, schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und begann, die kleinen akkuraten Buchstaben zu lesen. Der Text begann mit einem Bericht darüber, wie der Handelszug in Speyer aufgebrochen war, wie die Reisenden in Urach Rast machten und am nächsten Tag gen Ulm aufbrachen. Dann endlich widmete sich Godehard dem Überfall:
    Ich hatte mich mit einem Schreiber aus Augsburg angefreundet. Merten de Willms war sein Name, und ihm zu Ehren will ich berichten, wie er zu Tode kam, denn er war ein Held. Als der Kampf um die Wagen entbrannte …
    Erhard überflog die Zeilen, umarmte den verdatterten Oswald, und befahl ihm, alle Rollen in ein Tuch einzuschlagen und für den Transport vorzubereiten. Er selbst suchte die Hausherrin und fand sie schließlich betend in ihrer Schlafkammer.
    »Agnes von Bräseln …«, flüsterte er, kniete sich nieder und nahm ihre Hände. »Euer Sohn war ein gottesfürchtiger rechtschaffener Mann. Ich habe alles gelesen, ich weiß es. Was immer er getan hat: Ihr müsst wissen, dass es Gottes Wille war. Es gibt keinen Grund …«
    Agnes legte Erhard einen Zeigefinger auf den Mund. »Konnte ich Euch helfen?«
    Erhard nickte. »Eine große Bürde ist mir von der Seele genommen.«
    »Dann ist es gut. Geht nach Hause und tut, was Ihr tun müsst.«
    »Das werde ich, Agnes. Und ich werde alle Pergamente, die Euer Sohn verfasst hat, mitnehmen und verbrennen. Bis auf eines, das mir die Augen geöffnet hat und weder ihm noch Euch schaden kann.«
    Agnes nickte und verfiel in Schweigen.
    Erhard erhob sich. Oswald erwartete ihn bei der Tür. Jetzt galt es, so schnell wie möglich nach Rottweil zu gelangen, um das größte Unheil abzuwenden, das ihm und seiner Familie jemals gedroht hatte.
***
    Der Regen hatte aufgehört, Tropfen schillerten auf dem herbstlich gelben Laub. Wendel kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick über die Landstraße gleiten, die auf die Berkheimer Steige zuführte. Nichts zu sehen. Hoffentlich verging nicht noch ein Tag, ohne dass das eintraf, worauf sie ungeduldig warteten! Verärgert hieb er die Faust in einen Baumstamm. Jede Stunde, die Melisande länger im Kerker saß, konnte zusätzliche Schmerzen, Pein und Höllenqualen bedeuten. Zwei Tage harrten sie nun schon aus, eine Ewigkeit für jemanden, der im Verlies saß und mit der Folter bedroht war. Eine Ewigkeit auch für ihn selbst.
    Immerhin hatte er am Morgen einen befreundeten Weinhändler unter den Reisenden in einem Wagenzug entdeckt und die Gelegenheit gehabt, ihm ein paar Fragen zu stellen. So hatte er erfahren, dass für die Frau, die als Mann verkleidet im Haus des Ratsherrn Konrad Sempach aufgegriffen worden war, noch kein Prozess angesetzt war. Es hieß, man warte auf Antwort aus Rottweil, da man auch dort Anspruch auf die Gefangene erhebe.
    Wendel streckte sich. Es war Zeit, dass er seinen Beobachtungsposten aufgab und zu seinen Verbündeten zurückkehrte. Seinen Verbündeten! Wendel stieß verärgert Luft aus. Niemals im Leben hätte er gedacht, einmal mit einem von Ottmar de Bruce’ Vertrauten gemeinsame Sache machen zu müssen. Er drückte sich durch ein Gebüsch und lief auf dem kaum erkennbaren Pfad durch das Unterholz bis zu dem geheimen Lager, das von Säckingen, Antonius und er aufgeschlagen hatten, um unbeobachtet die Vorbereitungen für Melisandes Befreiung treffen zu können.
    Ein kleines Feuer war entzündet, Antonius achtete darauf, dass es gut brannte und nicht qualmte, was bei der Feuchtigkeit nicht leicht war. Von Säckingen saß neben ihm auf einem Fels. »Gibt es Neuigkeiten?«, fragte er, als Wendel näher trat.
    »Leider nicht.«
    »Dann gibt es zumindest

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