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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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einen trockenen Platz und eine warme Mahlzeit. Oswald hatte sich erkältet, ein übler Husten plagte ihn, und Erhard drohte, ihn an einen Tisch zu fesseln, falls er sich nicht freiwillig schonte, den Tag am Kaminfeuer verbrachte und sich von den Mägden mit heißem Würzwein verwöhnen ließ. Aber Oswald ließ sich nicht beirren, und schließlich gestattete Erhard ihm zähneknirschend, ihn zu Godehard von Bräseln zu begleiten.
    Wenig später hatten sie das Haus der von Bräselns ausfindig gemacht, das sich im Norden der Stadt an die Stadtmauer schmiegte.
    Erhard ließ den schweren Türklopfer auf das rote Holz des Portals fallen. Er wartete, aber nichts rührte sich. Er klopfte wieder und wieder, doch selbst nach dem fünften Mal ließ sich niemand blicken.
    Im Haus nebenan öffnete sich ein Fensterladen, eine junge Frau schaute hinaus, offenbar eine unverheiratete Magd. »Da könnt Ihr so oft klopfen, wie Ihr wollt, mein Herr!«, rief sie. »Es ist niemand da.«
    Erhard neigte den Kopf. »Ich danke Euch, Mädchen. Wisst Ihr vielleicht, wo ich Godehard von Bräseln finden kann?«
    Sie lächelte verschmitzt. »Ja, das weiß ich wohl, allerdings ist er nicht sehr gesprächig in letzter Zeit.«
    »Das hat man mir in Urach bereits mitgeteilt, dennoch muss ich in einer dringenden Angelegenheit mit ihm reden.«
    Die junge Frau kicherte. »Verzeiht, aber er ist wohl noch ein wenig wortkarger, als Ihr es erwartet. Er ist nämlich für immer verstummt. Und bevor er vor vier Wochen starb, hat er auch nicht viel gesagt. Um genau zu sein: Seit er vor zwei Jahren Opfer eines Überfalls wurde, hat er kein Wort mehr gesprochen. Mit niemandem. Nicht mit seiner Mutter, nicht mit seiner Verlobten, die übrigens vor Kummer wahnsinnig geworden ist. Kein einziges armseliges Wort. Wenn Ihr dennoch die Rede an ihn richten wollt, so findet Ihr sein Grab auf dem Gottesacker an der Kirche St. Joseph. Geht durchs Altpörtel, und Ihr werdet St. Joseph nicht verfehlen. Wahrscheinlich trefft Ihr dort seine Mutter Agnes an. Sie ist fast den ganzen Tag dort, und das immer allein, denn die Linie der von Bräselns reißt mit dem Tod Godehards ab.«
    Erhard seufzte. »Habt Dank!«
    Die Frau verschwand vom Fenster. Oswald spuckte aufs Pflaster. »Die ganze Reise vergebens. Ein Fluch scheint über allem zu liegen, was mit dieser Metze zu tun hat.«
    Erhard sah ihn scharf an. »Mäßige deine Zunge, Oswald. Wir wollen dennoch mit der Mutter sprechen, auch wenn sie vermutlich nichts weiß, das uns weiterhilft. Lass uns wenigstens das Grab des Mannes besuchen, der uns die Wahrheit über den Tod des Merten de Willms hätte verraten können.«
    Oswald legte ihm die Hand auf die Schulter. »Herr, es ist Gottes Wille. Grämt Euch nicht.«
    Erhard brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ich danke dir, mein alter Freund. Aber Gott strapaziert meine Geduld.«
    Oswald hustete und bekreuzigte sich rasch.
    Erhard lachte auf. »Gott hat mir die Tochter genommen und – wenn auch auf andere Weise – auch den Sohn und die Gemahlin. Warum nimmt er nicht gleich mein Leben?« Er wandte sich vom Haus der von Bräselns ab und schritt voraus zum Friedhof der Kirche St. Joseph.
    Die Magd hatte richtig vermutet. Nur eine Frau stand auf dem Gottesacker, in dunkle Gewänder gehüllt, an einem Grab, in dessen Holzkreuz der Name Godehard von Bräseln geschnitzt war.
    Erhard blieb stehen, plötzlich verunsichert. Warum sollte er die Frau in ihrer Trauer stören? Was hatte er hier überhaupt verloren? Godehard hatte niemandem ein Sterbenswörtchen erzählt, auch nicht seiner Mutter.
    Bevor er sich zu einer Entscheidung durchringen konnte, drehte die Frau sich um. Erhard musste sich zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien. Wie ein Trommelfell spannte sich die Haut über ihrem knochigen Gesicht, sie sah aus wie eine Tote, die aus ihrer Gruft gestiegen war. Aber ihre Stimme klang warm und freundlich. »Wollt Ihr zu mir, mein Herr? Kanntet Ihr meinen Godehard?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er war so ein guter Junge. Ein Wunder hat ihm das Leben gerettet, und doch musste er sterben, von …« Mit fahrigen Bewegungen zog sie eine Gebetskette aus ihrem Umhang und begann zu beten, wobei ihr Oberkörper in schnellem Takt von hinten nach vorn wippte.
    »Ich kenne die Frau, die ihm das Leben gerettet hat«, sagte Erhard leise.
    Das Murmeln erstarb. »Ihr kennt sie? Wie geht es ihr? Ist es ihr besser ergangen als meinem Sohn?«
    Erhard kratzte sich am Kinn. »Ja und nein.

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