Die Tränen der Henkerin
Sie lebt, aber man wirft ihr vor, einen Mord begangen zu haben.«
»Einen Mord! Jesus, Maria und Josef! Das kann ich nicht glauben. Sie hat doch vier Menschen das Leben gerettet, auch meinem Sohn.«
»So heißt es, ja.«
»Ihr zweifelt daran?« Sie wirkte unsicher.
Oswald trat vor. »Wir hatten gehofft, Euer Sohn könnte uns berichten, ob das, was man sich erzählt, der Wahrheit entspricht.«
Agnes von Bräselns Wimpern flatterten. Sie schwankte, Erhard und Oswald griffen zu und hielten sie.
»Ich … vielleicht …« Sie verstummte, und Erhard fürchtete schon, sie würde es ihrem Sohn gleichtun und nie wieder ein Wort sprechen, aber im nächsten Augenblick klärte sich ihr Blick und ihr Körper straffte sich. »Folgt mir, meine Herren.« Sie eilte mit langen Schritten davon.
Wenig später erreichten sie das Haus an der Stadtmauer; mit der flachen Hand stieß Agnes von Bräseln die Tür auf, die nicht versperrt gewesen war. Erhard und Oswald zögerten nicht und folgten ihr bis in die Schreibstube. In die Wand war ein riesiges hölzernes Regal eingelassen, in dem wohl an die hundert Pergamentrollen lagen. Agnes von Bräseln blieb davor stehen und deutete mit ihrem knochigen Zeigefinger auf die Rollen. »Godehard hat kein Wort mehr gesprochen, aber er hat von morgens bis abends die Feder tanzen lassen. Ihr habt meine Erlaubnis, Euch die Rollen anzusehen. Seid Ihr des Lesens mächtig?«
Erhard verneigte sich tief. »Ja, das bin ich. Ihr seid außerordentlich gütig, Agnes von Bräseln. Seid versichert, dass wir die Unterlagen Eures Sohnes mit äußerster Sorgfalt behandeln werden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ihr würdet eine Last von meinen Schultern nehmen, wenn Ihr Euch der Pergamente annehmen würdet, wenn Ihr die Lektüre beendet habt.«
»Wenn das Euer Wunsch ist, soll es so geschehen.«
Die Frau verschwand im hinteren Teil des Hauses. Oswald und Erhard nahmen eine Rolle nach der anderen aus dem Regal, mit ehrfürchtiger Vorsicht, so als fürchteten sie, die Worte, die darauf zu lesen waren, könnten plötzlich verschwinden. Oswald konnte nur stockend lesen, oft fragte er Erhard nach einem Buchstaben, den er nicht entziffern konnte, oder einem Wort, das er nicht kannte. Nur langsam kamen sie voran, doch allmählich wurden die Regale leerer und der Stapel mit den gelesenen Schriftrollen zu ihren Füßen wuchs. Stille herrschte in der kleinen Kammer, die nur vom Rascheln der Pergamente und Oswalds gelegentlichen Hustenanfällen gestört wurde.
Die meisten der Bögen waren mit wirren Wortketten vollgekrakelt, die keinen Sinn ergaben. Offenbar hatte der bedauernswerte Godehard nicht nur seine Stimme, sondern auch seinen Verstand verloren. An die fünfzig Pergamente hatten sie bereits gelesen, aber außer der immer wiederkehrenden Niederschrift eines Albtraums hatten sie nichts gefunden, das auch nur entfernt einen Sinn ergab. Der Traum war zwar bemerkenswert, doch er verriet nichts über den Überfall: In wirren Worten und zittriger Schrift schilderte der Mann, wie er von Gott in die Hölle gestürzt und dort von froschartigen Wesen mit sechs Beinen zerrissen und aufgefressen wurde.
Das Froschungeheuer sperrte sein riesiges Maul auf, und sein schwefeliger Odem streifte mich. Mir schwanden die Sinne, kaum spürte ich, wie es mir die Arme ausriss und sie verschlang …
Agnes von Bräseln ließ sich die ganze Zeit über nicht blicken. Hatte sie die Dokumente bereits gelesen? War sie davon überzeugt, dass ein Dämon in ihren Sohn gefahren war? Erhard fuhr sich nachdenklich durchs Haar. Hatte Godehard sich womöglich das Leben genommen? Er lag in geweihter Erde, also konnte das nicht sein. Es sei denn, seine Mutter hatte die genauen Todesumstände vertuscht. Aber würde sie dann zwei Fremden Zugang zu seinen Dokumenten gewähren? Es war schließlich möglich, dass ihr Sohn seine Absichten aufgeschrieben hatte. Andererseits wurde man aus seinen Worten nicht schlau.
Erhard griff in ein weiteres Fach und nahm sich die darin befindlichen Rollen vor. Er bemerkte sofort, dass etwas anders war; die Schrift war gerader, und die Worte waren nicht so wirr. Godehard hatte offensichtlich begonnen, seine Albträume als Strafe Gottes aufzufassen. Doch wofür? Auf einem Pergament, das nicht gerollt, sondern gefaltet war, fand Erhard den Grund und wollte es nicht glauben: Godehard von Bräseln hatte seinen eigenen Vater getötet. Das Geständnis war in klarer Handschrift niedergelegt, mit deutlich gewählten Worten, die
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