Die Tränen der Henkerin
Mittel recht wäre. Die alles behaupten und noch mehr erfinden würde, um ihre Schwiegertochter zu retten, auch eine völlig an den Haaren herbeigezogene Lügenmär. Beweise, dass diese Melissa Füger tatsächlich Melisande Wilhelmis ist«, er lächelte kurz, »gibt es keine.«
»So ist es.« Langkoop nickte langsam. »Jeder könnte eine solche Geschichte erfinden. Ohne Beweis ist sie nichts wert. Wir können nicht die Geschäfte dieser Stadt danach ausrichten, dass irgendein Weib Gerüchte in die Welt setzt. Außerdem hat Melissa Füger schwere Schuld auf sich geladen. Das ist kein Gerücht, sondern eine Tatsache. Wir können uns als Rat der Stadt Esslingen nicht vor eine Kindsentführerin und Mörderin stellen. Und noch dazu hat sie einen von uns angegriffen. Denkt an Sempach.«
Remser verzog gequält das Gesicht. Sempach war ein weiteres Geschwür, das er sich am liebsten aus dem Leib geschnitten hätte. Dieser Mann war ein Besessener. Vor einiger Zeit hatte er um jeden Preis einen Ketzer finden wollen, der die Bibel in die Sprache des Volkes hatte übersetzen lassen, und hätte damit beinahe das Heilige Inquisitionsgericht in die Stadt geholt. Zum Glück hatte er seine sinnlose Jagd bald aufgeben müssen. Remser räusperte sich. »Ob diese Frau Melisande Wilhelmis ist oder nicht – sie hat ein Verbrechen nach dem anderen begangen, hat gelogen und betrogen. Vielleicht wäre es besser für sie gewesen, wenn sie damals mit ihrer Familie gestorben wäre. Sie war für den Tod bestimmt und ist ihm entronnen. Jetzt holt er sich, was seins ist.« Er klopfte mit seinem Messer auf den Tisch. »Karl Schedel, Henner Langkoop, als zuständiger Richter erteile ich Euch folgende Order: Bringt mir das Geständnis der Verbrecherin, damit wir sie nach Recht und Gesetz richten können. In spätestens drei Tagen soll der Prozess stattfinden. Den Brief werde ich vernichten, damit er nicht in falsche Hände gerät. Und beeilt Euch. Wir müssen Tatsachen schaffen, bevor es zu spät ist.«
Schedel und Langkoop wandten sich zur Tür. Schedel wirkte unzufrieden, doch Remser vertraute darauf, dass er seine Pflicht gegenüber seiner Stadt ernst nahm. Er erhob sich ebenfalls. »Einen Moment noch, meine Herren.«
Sie drehten sich um.
»Ihr werdet das Verhör nur mit dem Henker und einem Büttel durchführen. Einem zuverlässigen Büttel, der nicht alles, was er mitbekommt, im nächsten Wirtshaus ausplaudert.«
»Ich kenne einen, auf den Verlass ist«, sagte Langkoop sofort.
»Gut.« Remser rieb sich zufrieden die schmerzenden Finger. »Diese Frau soll durch das Schwert sterben, schnell und sauber, schließlich sind wir keine Unmenschen. Und dann werden wir ihren Leichnam verbrennen lassen.«
***
Konrad Sempach starrte fassungslos auf die Truhe. Diese verfluchte Metze hatte das verborgene Fach tatsächlich ausgeräumt! Wie gut, dass er Geheimtinte verwendet hatte, um die Namen der Kunden auf der Rückseite zu notieren. Aber woher wusste sie von seinen Geschäften? Wer hatte ihn verraten? Zum wiederholten Mal ging er in Gedanken seine Kunden durch, aber da war niemand, mit dem er Streit hatte oder der mit der Ware unzufrieden gewesen wäre. Im Gegenteil: Erst vor wenigen Tagen hatte er den Spross einer der vornehmsten Familien des Reiches mit einem ganz besonderen Leckerbissen erfreut. Die Männer standen Schlange, er konnte den Bedarf kaum decken, musste immer größere Kreise ziehen, um frische Ware zu bekommen.
Gestern hatte er sich zuerst Petter vorgeknöpft, der ihm stotternd gebeichtet hatte, dass ihn am vergangenen Freitag ein falscher Kunde aufgesucht habe. Er habe die Täuschung erst bemerkt, als der echte Meister Rogwald bei ihm auftauchte und nach dem Mädchen verlangte. Daraufhin habe er die ganze Stadt nach dem Betrüger abgesucht, jedoch keine Spur von ihm gefunden. Als dann bei Sempach der Einbrecher gefasst worden sei, der der Beschreibung nach der falsche Kunde sein musste, habe er gedacht, damit sei die Sache erledigt.
Sempach hätte den dummen Burschen am liebsten einen Kopf kürzer gemacht. »Und wann hattest du vor, mir davon zu erzählen?«, brüllte er ihn an.
»Ich … ich dachte doch, jetzt wo der Schuft im Kerker sitzt, da …«
»Da was?« Sempach packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn.
»Da … da würde er doch ohnehin alle Untaten gestehen und verurteilt werden.«
»Und, du neunmalkluge Ratte, hast du auch darüber nachgedacht, was er unter der Folter über unsere Geschäfte ausplaudern
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