Die Tränen der Henkerin
ihre Köpfe hinweg, erhellte für einen Moment die Kammer, nahm ihnen den Atem und war ebenso schnell verloschen, wie sie aufgeflammt war. Das Geschrei der Männer hatte sich vervielfacht. Wendel konnte nicht glauben, dass Menschen solch grauenvolle Laute von sich geben konnten.
Von Säckingen riss ihn aus seiner Erstarrung. Er zerrte ihn hoch. »Macht schon, Füger, wir müssen weiter!«
Wendel half Melisande auf. Der Ritter hatte Recht. Jetzt hieß es handeln, trauern konnte er später. Antonius war tot, aber er selbst lebte und Melisande ebenfalls. Gemeinsam schlugen sie die Tür zu und verriegelten sie. Es würde eine ganze Weile dauern, bis die Soldaten ihnen folgen konnten, denn Antonius hatte im Thronsaal die Hölle entfacht.
Keiner von ihnen brachte ein Wort heraus, aber das war auch nicht notwendig. Sie stürzten durch die Tür hinter dem Fass in einen weiteren Kellerraum, suchten den nächsten Durchgang und fanden ihn hinter einigen Ballen groben Leinens. Dahinter lag ein Gang, der nach etwa hundert Fuß nach rechts abknickte. Schon standen sie in einem weiteren Keller.
Von Säckingen deutete nach oben. Wendel nickte zustimmend. Sie durften sich nicht zu weit vom Schelkopfstor entfernen, denn sie brauchten den Wagen, um aus der Stadt hinauszukommen.
Zum Glück war der Aufgang zum Haus schnell gefunden, und kurz darauf traten sie in eine menschenleere Stube. Wie gut, dass die Glocken von St. Dionys alle Menschen aus den Häusern gerufen hatten! Sie läuteten noch immer Sturm.
Wendel öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinaus auf die Straße. Aus dem Schelkopfstor drang Qualm, Geschrei füllte die Gassen. Dann sah er den Wagen. Die Pferde hatten ihn trotz angezogener Bremse vom Tor weggezogen, um sich vor dem Feuer in Sicherheit zu bringen. Er wandte sich zu den beiden anderen um. »Der Wagen steht wenige Schritte von der Haustür entfernt in der Gasse, mein Pferd ebenfalls, ich hatte es an den Bock gebunden.« Er musste Atem schöpfen, hustete. Sein Hals schmerzte von dem Rauch, den er eingeatmet hatte. »Ich nehme das Pferd, Ihr lenkt den Wagen, von Säckingen. So wie es geplant war. Und du, Melisande, versteckst dich im Wagen. Er hat einen doppelten Boden.« Er deutete auf von Säckingen. »Der Ritter wird es dir zeigen.«
Sie rannten los. Melisande verschwand mit von Säckingen unter der Plane, Wendel band sein Pferd los und schwang sich in den Sattel. Niemand beachtete sie, das brennende Schelkopfstor zog alle in seinen Bann.
Erst als von Säckingen auf dem Bock erschien, sah Wendel, dass er sich die Seite hielt. »Ihr seid verletzt?«
Von Säckingen grinste. »Halb so schlimm«, sagte er beinahe fröhlich. Dann senkte er die Stimme. »Es tut mir leid um Euren Freund, Füger. Er war ein guter Mann.«
»Lasst uns aufbrechen«, entgegnete Wendel kurz. Er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht loszuschreien vor Wut und Trauer. Dieser verdammte Ritter lebte, und Antonius war tot! Sobald die Stadt außer Sichtweite war, würde er von Säckingen entwaffnen und allein mit Melisande weiterziehen. Denn er traute ihm noch immer nicht. Bis jetzt konnte er ihm zwar nichts vorwerfen, und im Thronsaal hatte er Antonius sogar retten wollen. Dennoch sagte ihm sein Instinkt, dass von Säckingen eigene Ziele verfolgte, die seinen eigenen zuwiderliefen.
Menschen über Menschen strömten zum Schelkopfstor, in den Händen jedes nur erdenkliche Gefäß, mit dessen Hilfe sie das Feuer zu löschen hofften, bevor ihre Stadt von den Flammen eingeäschert wurde. Einige hatten jedoch auch Karren beladen und zogen es vor, ihre Habe in Sicherheit zu bringen.
Von irgendwoher hörte Wendel, dass die Scheune gelöscht sei und dass es Brandstifter gewesen sein mussten, denn es könne ja kein Zufall sein, dass so kurz hintereinander zwei Feuer in der Stadt ausbrachen. Die Tore seien zwar nicht geschlossen, aber jeder, der Esslingen verlassen wolle, werde aufs Schärfste kontrolliert.
Von Säckingen riss Wendel aus seinen Gedanken. »Wir nehmen das Obere Tor«, raunte er ihm zu.
Wendel nickte und schlug den Weg zur Bindergasse ein, die zum Oberen Tor führte. Durch dieses Tor war er schon einmal aus der Stadt geflohen. Er presste die Lippen zusammen. Damals hatte Melisande den Wächter mit einer List überrumpelt, diesmal war er es, der notfalls zur List greifen musste. Nach einigen Hundert Fuß ließ er sich hinter den Wagen zurückfallen. In diesem Teil der Stadt drängte sich nicht ganz so viel Volk wie auf dem
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