Die Tränen der Henkerin
Er konnte Wendel nicht helfen, musste das Durcheinander nutzen, um sich davonzumachen. Er ließ die Zügel locker und schnalzte mit der Zunge; die Pferde sollten sich selbst einen Weg bahnen, ihr Instinkt war jetzt besser als sein Verstand. Schon rollte der Wagen durch das Tor. Von Säckingen hörte Armbrustbolzen sirren, dann einen Schrei, gefolgt von furchtbaren Flüchen. Wendel? Er sprang auf und wandte sich um. Nein, der Weinhändler stand noch in den Steigbügeln, unverletzt. Um ihn herum hatte sich etwas Raum gebildet, anscheinend wollte keiner dem Feuerteufel zu nahe kommen. Die Wachen hatten wohl einen Unbeteiligten getroffen und trauten sich nun nicht mehr zu schießen. Diese Anfänger! Gerade jetzt wäre ihr Gegner ein leichtes Ziel!
»Gib dem Pferd die Sporen«, murmelte von Säckingen, und als hätte der Weinhändler ihn gehört, trat er seinem Pferd in die Seite, dass es sich aufbäumte. Die Menschen stoben noch weiter auseinander, Wendel legte sich nach vorn und ließ die Zügel los. Das Pferd machte einen Satz und pflügte sich durch die Masse, Panik stand in seinen Augen.
Von Säckingen ließ sich zurück auf den Bock fallen. Sie hatten das Tor hinter sich gelassen, die Pferde zogen an und fielen in einen flotten Trab. Vorbei ging es an vereinzelten Häusern, den mächtigen Mauern des Klarissenklosters und den zahlreichen Flüchtenden, die sich immer wieder ängstlich umsahen.
Hufschlag näherte sich von hinten. Von Säckingen sah aus den Augenwinkeln, wie Wendel an ihm vorbeischoss. Hier in der dünn besiedelten Vorstadt gab es viele freie Flächen, und der Weinhändler nutzte den Platz, um sein Pferd Haken schlagen zu lassen, damit die Schützen nicht zielen konnten. Ein Bolzen nach dem anderen flog ihm hinterher.
Von Säckingen duckte sich, so tief es ging, um nicht selbst getroffen zu werden. Nur noch ein kurzes Stück, dann waren sie außer Reichweite.
Da geschah es: Ein Bolzen traf Wendel in die Schulter. Er sackte zusammen, krümmte sich, doch er fiel nicht zu Boden. Das Pferd galoppierte unbeirrt weiter. Als Pferd und Reiter hinter den letzten Höfen verschwanden, endete der Bolzenhagel.
Von Säckingen ließ die Pferde vor dem Wagen ebenfalls angaloppieren. Er wollte so schnell wie möglich verschwinden, denn die Esslinger würden schon bald Reiter aussenden, um ihn und Wendel zu jagen. Doch nichts geschah. Er blickte sich um und sah, dass die Wachen das Tor geschlossen hatten. Er lachte laut auf. Bei allen Heiligen! Das Glück war heute auf seiner Seite. Die Beute wohlverwahrt im Bauch des Wagens, sein gefährlichster Gegner im Gefecht gefallen und sein Nebenbuhler womöglich so schwer verletzt, dass er ohne Versorgung durch einen Wundarzt nicht überleben würde. Und nun sah es auch noch so aus, als hätten die Verfolger die Jagd aufgegeben. Er parierte die Pferde in den Schritt durch, es gab keinen Grund mehr zur Eile.
Als der Wagen die letzten Häuser der Stadt hinter sich gelassen hatte, kniff von Säckingen die Augen zusammen und suchte die Landstraße ab, die entlang des Neckars in Richtung Süden verlief. Ein paar Reisende waren unterwegs, doch Wendel befand sich nicht unter ihnen. Entweder war er seiner Verletzung erlegen und vom Pferd gestürzt, oder er war weitergaloppiert, um auf dem schnellsten Weg den vereinbarten Treffpunkt zu erreichen.
Eberhard von Säckingen lehnte sich zufrieden zurück. Falls Wendel noch lebte, würde er vergeblich warten. Es war besser gelaufen, als er zu träumen gewagt hätte. Er würde Melisande unverletzt und sicher auf die Adlerburg bringen. Dafür war Othilia ihm etwas schuldig. Und er wusste auch schon was.
D IE
A DLERBURG
Irma summte leise, während sie die Wiege hin- und herschaukelte. Ihr Sohn schlief tief und fest, ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, als hätte er einen süßen Traum. Wovon mochte so ein kleines Würmchen wohl träumen? Irma seufzte. Sie musste an Gertrud denken. Wo mochte die Kleine nur stecken? Lebte sie noch? Ging es ihr gut? Irma hörte auf zu summen und erhob sich. Leise schlich sie aus der Kammer. Arme Melissa. Sie wünschte so sehr, mehr für ihre Freundin tun zu können, doch sie wusste nicht, wie. Immerhin hatte sie Wendel dazu gebracht, ihr zu Hilfe zu eilen.
Sie stieg die Treppe hinunter. Im Haus war es ungewöhnlich still. Die Mägde und Knechte hatten wohl alle draußen zu tun, und Lorentz war auf einer Ratssitzung. Gerade, als Irma in der Küche nach dem Rechten sehen wollte, klopfte es so laut, dass
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