Die Tränen der Henkerin
wiedererkannt. Wie konnte er selbst in diesem Moment höchster Not so ruhig und beherrscht bleiben? Woher nahm er die Kraft? Hatte er nie Angst?
Wieder hörte sie ihn rufen: »Antonius, Ihr müsst mir helfen! Zaudert nicht, sonst sind wir verloren.«
»Sofort!« Antonius eilte von Säckingen zu Hilfe. Melisande lief unruhig in der Zelle hin und her. Die beiden waren hervorragende Kämpfer; sie konnten es schaffen, die Soldaten an der Treppe aufzuhalten, weil es dort so eng war, dass die Gegner sie nur zu zweit nebeneinander angreifen konnten.
Wendel fluchte, wie Melisande ihn noch nie hatte fluchen hören. »Zum Teufel! Dieses gottverdammte Schloss wird uns alle umbringen, es gibt keinen Deut nach.«
Melisande schloss kurz die Augen, um zur Ruhe zu kommen, dann presste sie sich ganz dicht an die Tür. »Wendel! Hör zu!«
»Ich höre, Liebste«, antwortete Wendel.
»Du darfst den Dorn nicht zu weit in das Schloss stecken. Nur etwa zwei Fingerbreit. Und dann drück ihn etwas nach oben.«
Melisande hörte erneut das Kratzen des Dorns, dann ein Klicken. Die Tür flog auf, und Wendel stürzte auf sie zu, nahm ihren Kopf in die Hände und küsste sie auf den Mund, zart und dennoch voller Leidenschaft. Einen kostbaren Moment lang verharrten sie so, dann nahm er sie an der Hand und zog sie in den Gang, der von Schwerterklirren und Schreien erfüllt war.
Bevor sie losrannten, wandte sich Wendel noch einmal zu ihr um. »Auch wenn wir jetzt sterben müssen«, sagte er mit einem schwachen Lächeln, »brauchen wir den Tod nicht zu fürchten, denn wir werden beide …«, er stockte, eine Träne stahl sich auf seine Wange, »… wir werden alle drei bei Gott Gnade finden. Er wird uns unsere Sünden vergeben und uns im Himmel aufnehmen. Und er wird auch für Gertrud sorgen.«
Melisande wischte seine Träne weg. »So weit ist es noch lange nicht, Wendel Füger. Wir müssen noch nicht sterben, zumindest nicht, wenn wir uns beeilen.«
Wendel schaute sie zweifelnd an und deutete den Gang hinunter. »Gegen diese Übermacht können wir nicht viel ausrichten.« Er setzte eine entschlossene Miene auf. »Aber wir werden ihnen einen guten Kampf bieten.«
Melisande versuchte, nicht auf dem Kampflärm zu achten, auf das Klirren der Schwerter und die Schreie der Verletzten, die düstere Erinnerungen in ihr weckten. Diesmal saßen sie nicht in der Falle. Es gab einen Ausweg, einen echten Ausweg, der nicht vergiftet war durch List und Trug. »Wir müssen in den Thronsaal«, rief sie. »Sofort. Dort ist Rettung!«
Wendel legte die Stirn in Falten. Melisande hielt sich jedoch nicht mit Erklärungen auf, sondern zog ihn mit sich. Sie stürmten um die Biegung, die Treppe kam in ihr Blickfeld. Antonius und der Ritter standen Seite an Seite und hieben immer wieder auf die Angreifer ein, die so töricht waren, sich mit ihnen messen zu wollen. Ein Toter lag bereits in seinem Blut, aber sie konnte mehr als zehn Männer sehen, die hinunterdrängten. Die schiere Masse der Soldaten würde Antonius und von Säckingen letztlich niederwerfen.
»Kommt mit in den Thronsaal, von dort gibt es einen Fluchtweg!« Melisande brüllte, so laut sie konnte.
Antonius warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu, in seinen Augen mischten sich Erleichterung und Staunen. Er rief dem Ritter etwas zu, der zögerte, dann aber zustimmend nickte. Gemeinsam machten sie einen Ausfall die Treppe hinauf und sprangen danach hinunter, hasteten zu Melisande und Wendel in den Thronsaal. Sofort drängten die Soldaten mit Triumphgeschrei hinter ihnen her, aber bevor sie den Thronsaal erreichten, hatte Antonius die Tür schon von innen verschlossen und den Riegel mit einer Zange blockiert.
»Hier stecken wir wie die Ratten in der Falle!«, fauchte von Säckingen und wischte sich mit einer Hand über das blutverschmierte Gesicht. »Da draußen hätten wir sie einen nach dem anderen niedergemacht und wären dann geflohen.«
»Ihr träumt, Ritter«, widersprach Melisande. »Oder glaubt Ihr, Ihr seid unbesiegbar? Diesmal werdet Ihr Euch mir anvertrauen müssen, wenn Ihr lebend hier herauskommen wollt.«
Von Säckingen sah mit blitzenden Augen zu ihr herüber, öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder und zuckte ergeben mit den Schultern.
Ein paar Wimpernschläge lang starrten sie sich an, dann brach Melisande das Schweigen. »Verbarrikadiert die Tür und folgt mir.« Sie wandte sich dem hinteren, unbeleuchteten Teil des Thronsaals zu. »Jetzt zeigt sich, dass meine Zeit
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