Die Tränen der Henkerin
sie erschrocken zusammenzuckte.
Sie trat an die Tür. »Wer da?«
»Ein Büttel der Stadt Rottweil, Herrin. Ich bringe Euch einen Brief.«
Irma runzelte die Stirn. Warum ließ man ihr einen Brief durch einen Büttel zustellen? »Von wem ist das Schreiben?«
»Von einer Maria von Felsenbrunn.«
Irma riss die Tür auf. Vor ihr stand ein Mann, den sie schon einige Male in Begleitung des Bürgermeisters gesehen hatte, ein hagerer Bursche mit hellblondem Haar. Er hielt ein gefaltetes Pergament in der Hand.
»Wer hat dir den Brief gegeben, Bursche?«, fragte sie misstrauisch.
»Er wurde bei einem Kerl gefunden, den man vor ein paar Tagen vor den Toren der Stadt erschlagen hat. Leider hat es gedauert, bis wir uns um den Leichnam kümmern konnten. Deshalb fanden wir das Schreiben eben erst unter seinem Wams.« Der Mann reichte ihr den Brief.
»Danke, Bursche.« Sie drückte dem Büttel einen Heller in die Hand, dann knallte sie die Tür zu.
Nachricht von Melissa! Endlich! Vielleicht hatte sie Gertrud schon gefunden! Vielleicht war endlich alles gut! Hastig erbrach Irma das Siegel. Ein zweites Pergament rutschte heraus und fiel zu Boden. Sie bückte sich danach, legte es auf den Tisch und überflog, was Melissa ihr geschrieben hatte.
Liebste Irma,
ich bin dem Verbrecher, der meine Tochter entführt hat, dicht auf den Fersen. Mit etwas Glück halte ich Gertrud vielleicht schon heute Abend wieder in den Armen. Der Mann heißt Konrad Sempach, er ist Ratsherr hier in Esslingen und in dunkle Geschäfte verwickelt. Die Beweise dafür finden sich auf dem Pergament, das ich meinem Schreiben beigefügt habe.
Meine liebe Freundin, solltest du nicht spätestens in zwei Tagen wieder Nachricht von mir bekommen, überreiche deinem Gemahl das beigefügte Dokument. Er wird wissen, was zu tun ist. Du bist meine letzte Bastion, wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, Irma.
In Liebe,
Maria von Felsenbrunn
Irmas Hände zitterten. Melissa war in den Kerker geworfen worden, weil sie angeblich einen Anschlag auf einen Ratsherrn verübt hatte. Es bestand kein Zweifel, dass es sich bei diesem Ratsherrn um Konrad Sempach handelte. Dieser Schurke hatte den Spieß einfach umgedreht!
Vorsichtig entfaltete Irma das zweite Pergament. Erst wurde sie aus den Wörtern und Zahlen nicht schlau, doch dann entzifferte sie Namen von Mädchen und die Eigenschaften, mit denen sie bedacht worden waren. »Gütiger Gott«, murmelte sie entsetzt und ließ das Pergament fallen, als sei es ein glühendes Eisen. »Was für ein Ungeheuer! Und er hat die arme kleine Gertrud in den Klauen!«
Sie bückte sich, klaubte das Pergament vom Boden, riss ihren Mantel vom Stuhl, rannte zur Hintertür und stieß sie auf. »Trude!«, rief sie einer Magd zu, die gerade ein Huhn rupfte. »Komm ins Haus und achte auf Friedel. Sofort! Ich muss noch einmal fort.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich ab und verließ das Haus durch die Vordertür. Sie rannte los, die Schriftrollen an ihre Brust gepresst. Wie gut, dass der Rat gerade tagte. Hoffentlich war es noch nicht zu spät!
***
Erleichtert stieß Melisande Luft aus und entspannte ihre verkrampften Muskeln. Ihr Körper fühlte sich an, als sei sie verprügelt worden. Bestimmt war sie mit blauen Flecken übersäht, denn bei jeder Unebenheit war sie in dem engen Versteck irgendwo angestoßen. Sie hatte sich kaum bewegen können, ihre Arme und Beine waren taub, ihr Nacken schmerzte, weil sie ständig die Muskeln anspannen musste, damit ihr Kopf nicht an die harten Planken schlug.
Jetzt hatte das Ruckeln aufgehört. Offenbar hatte jemand den Wagen angehalten. Das musste von Säckingen gewesen sein, denn Wendels Stimme hatte sie lange nicht mehr gehört. War er entkommen? Wann endlich würde er wieder zu ihnen stoßen?
Melisande biss sich auf die Lippe. Wendel durfte nichts geschehen sein! Nicht, nachdem sie endlich wieder zueinandergefunden hatten! Nicht nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten! Sie mussten Gertrud retten, ihre Tochter brauchte sie! Tränen schossen Melisande in die Augen. Wer hatte Gertrud entführt? Sie war so sicher gewesen, dass Konrad Sempach dahintersteckte. Wie dumm von ihr! Und jetzt war der Zeitpunkt verstrichen, an dem sie am vereinbarten Treffpunkt hätte erscheinen sollen. Oder war noch nicht Vollmond gewesen? War noch Zeit? Wie viele Tage waren vergangen?
Ein Geräusch riss sie aus ihren Grübeleien. Über ihr schabte etwas, und plötzlich drang Licht in ihr Versteck. Von
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