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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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ihren Füßen kniete, nicht einen Krug an den Kopf zu werfen. »Schickt Boten in alle Städte in der Umgebung: nach Plochingen und Esslingen, nach Tagelfingen, Eningen und Urach. Dreht jeden Stein um, ich will von Säckingen hier haben, und zwar unverzüglich!«
    Der Bote hob den Kopf. Othilia gab ihm jedoch keine Gelegenheit zu antworten. »Es ist mir egal, ob Ihr da schon gesucht habt. Jeder Bote bleibt mindestens vier Tage, dann kehrt er zurück und erstattet Bericht. Und macht von Säckingen klar, dass nichts wichtiger ist als seine sofortige Rückkehr auf die Adlerburg! Nichts weiter, kein Wort über den Grafen, oder ich lasse Euch vierteilen! Und jetzt geht mir aus den Augen.«
    Der Bote verließ gesenkten Hauptes den Rittersaal. Schon bald hörte Othilia ihn im Burghof lautstark Befehle erteilen, wenig später donnerten Hufe über die Zugbrücke.
    Ihre Hofdamen schienen zu Stein erstarrt zu sein, keine wagte es, Othilia anzusehen, und daran taten sie gut. Seit Graf Ulrich die Gebeine ihres Mannes gebracht hatte, war Othilia von einer seltsamen Unruhe befallen. Öfter als sonst riss ihr der Geduldsfaden schon bei unwichtigen Begebenheiten. Sie hatte einen Söldner in den Kerker werfen lassen, weil er vor ihren Augen geflucht und auf den Boden gespuckt hatte, und sie hatte eine Magd blutig peitschen lassen, weil diese ein Ei hatte fallen lassen; dabei hätten einige Rutenhiebe als Strafe völlig genügt. Sie musste sich zusammennehmen, sonst konnte sie nicht mehr klar denken und traf falsche Entscheidungen.
    »Meine Damen!« Othilia erhob sich. »Es gibt keinen Grund, Trübsal zu blasen. Diese Ritter brauchen von Zeit zu Zeit eine kleine Erinnerung daran, dass nicht die Männer diese Burg beherrschen, sondern wir. Und das nicht nur, weil wir schön sind und voller Anmut.«
    Einige Damen kicherten, andere liefen rot an, zwei hoben den Kopf und blickten Othilia an. Sie erwiderte die Blicke und lächelte. »Also lasst uns ein wenig den erbaulichen Versen über die Abenteuer von Hildebrand und Hadubrand lauschen. Adelheid?«
    Eine junge Frau von vielleicht achtzehn Jahren erhob sich und knickste, griff nach einer Laute und begann mit warmer tiefer Stimme davon zu singen, wie Hildebrand und sein Sohn Hadubrand in der Schlacht aufeinandertrafen, und wie sie die Entscheidung im Zweikampf herbeiführen wollten.
    Dann ließen sie zuerst die Eschenlanzen bersten
    Mit einem so harten Stoß, dass sie sich fest in die Schilde gruben
    Darauf ließen sie die dröhnenden Schilde selbst aufeinanderprallen
    Schlugen voll Ingrimm auf die weißen Schilde ein
    Bis ihnen ihre Lindenschilde zu Bruch gingen
    Zerstört von den Waffen
    Es klopfte an der Tür, die Damen und Othilia mussten lachen, denn es hörte sich an wie das Getöse der berstenden Schilde.
    »Tretet ein!«, rief Othilia.
    Als die Tür sich öffnete, machte ihr Herz einen Sprung. Der Ritter, dessen Gegenwart sie nach der von Säckingens am meisten herbeigesehnt hatte, begehrte Einlass. »Meine Damen, verzeiht«, sagte sie rasch, »ich muss mit diesem edlen Mann einige Dinge besprechen, die für Eure zarten Ohren nicht geeignet sind.«
    Nur einen Augenblick später waren Othilia und der herbeigesehnte Ritter allein. Othilia betrachtete ihn. Leopold von Steyer war in den letzten Tagen nicht ansehnlicher geworden, was wirklich bedauerlich war. Seine Nase war immer noch zu lang und zu krumm, seine Augen standen zu dicht beieinander, und seine Haut war fahl und grau. Doch das hatte auch Vorteile: Die Weiber standen nicht gerade Schlange, um um seine Gunst zu buhlen, und er litt ganz offensichtlich darunter. Umso mehr war er Othilia zugetan.
    Wortlos trat er zu ihr und beugte das Knie. In seiner rechten Hand hielt er ein längliches Bündel.
    Sie winkte ihn näher zu sich und deutete auf ihr Ohr.
    Der Mann verstand sofort. Er trat an ihre Seite und neigte sich zu ihr herunter. »Das Kruzifix, das Ihr mir gegeben habt, wurde von einem Esslinger Goldschmied angefertigt …«, flüsterte er.
    Othilia klammerte ihre Hände um die Armlehne.
    »… vor etwa zwanzig Jahren.«
    Ein Esslinger Goldschmied! Vor zwanzig Jahren! Ihr Kopf schien zu bersten.
    »Es wurde von einem gewissen Konrad Wilhelmis in Auftrag gegeben. Für seine Tochter Melisande, zu ihrer Geburt.« Der Ritter trat zurück.
    Othilia musste plötzlich so schwer atmen, als hätte sie gerade einen steilen Berg erklommen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Melisande Wilhelmis, wie war das möglich? Sie musterte den Mann.

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