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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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schien das Leid des Verurteilten nichts auszumachen. Im Gegenteil, sie feuerten den Henker mit lauten Rufen an. Vielleicht konnten sie sich aber auch nicht vorstellen, was gerade geschah. Schließlich war der Mann unter den Dornenbüschen nicht mehr zu sehen. Einer der Knechte hielt nun den Pfahl fest, während Balthasar sich einen großen Holzhammer reichen ließ und den ersten Schlag tat. Götzer brüllte, die Menge klatschte und jubelte. Als der nächste Schlag folgte, war aus der Grube nur ein tiefes Stöhnen zu vernehmen. Noch fünfmal schlug der Henker zu, dann legte er den Hammer weg. Er schwitzte, und sein Atem ging schwer. Feierlich verneigte er sich vor den Richtern, dann trat er zur Seite und überließ es seinen Knechten, die Grube zuzuschaufeln.
    Als die erste Schaufel Erde in dem Loch landete, schrie der Verurteilte noch einmal auf. Seine Stimme war inzwischen heiser. Melisande wandte den Blick vom Richtplatz ab und betrachtete ihre Freundin, die ganz weiß im Gesicht war und ihre Hand in Melisandes krallte.
    »Ist dir nicht wohl, Irma?«
    Die Freundin nickte stumm.
    Melisande ergriff ihren Arm. »Lass uns gehen. Für heute haben wir genug gesehen.« Energisch bahnte sie sich mit Irma einen Weg durch die Menge, weg von dem grässlichen Schauspiel. Erst als sie mehrere Hundert Fuß vom Richtplatz entfernt waren, blieb sie keuchend stehen. Irma war trotz der Anstrengung noch immer blass.
    »Geht es dir gut, Irma?«, fragte Melisande und strich der Freundin über das zerzauste Haar.
    »Das … das habe ich nicht gewusst!« Irma beugte sich vor und erbrach sich zitternd.
    Melisande hielt Irma fest, die so lange würgte, bis nur noch Galle und schließlich gar nichts mehr kam. Sie traten vom Weg und ließen sich in einiger Entfernung am Waldrand in eine Wiese fallen. So lagen sie eine Zeit lang und starrten in den Himmel.
    »Es war grauenhaft, Melissa«, sagte Irma schließlich. »Ich konnte meinen Blick nicht abwenden; es war wie ein Bann, wie ein Rausch. Dabei wollte ich es am Ende gar nicht mehr sehen.« Sie schluchzte leise.
    Melisande setzte sich auf und nahm ihre Freundin in den Arm. »Dieser Wilhelm Götzer hat aus Habgier seinen Bruder erschlagen. Er hat den Tod verdient.«
    Irma zog die Nase hoch. »Ich weiß. Er soll ja auch nicht verschont werden, er hat schlimme Schuld auf sich geladen. Aber warum hat der Henker ihm nicht einfach den Kopf abgeschlagen?«
    »Du weißt doch, dass das Urteil nur zu seinem Besten war, Irma. Je mehr Schmerz ein Sünder in diesem Leben erleiden muss, desto kürzer wird seine Zeit im Fegefeuer.« Obwohl sie selbst fest daran glaubte, kamen Melisande ihre Worte hohl vor. Trotzdem sprach sie weiter, schon um Irma zu trösten: »Zudem soll seine Bestrafung andere abschrecken. Sie soll verhindern, dass weiteres Unrecht geschieht.«
    »Vater sieht das anders. Er geht nie zu Hinrichtungen, denn er glaubt, dass all die Qualen nichts helfen.« Irma wischte sich mit dem Ärmel die Tränen weg. »Er sagt, man solle die Übeltäter schnell und schmerzfrei hinrichten, der Rest sei Sache unseres Herrgotts, nur er allein wisse, was jede Seele verdient hat.«
    »Dein Vater ist ein guter Mensch. Aber du hast ja gesehen: Die meisten Leute haben Freude daran, andere leiden zu sehen.«
    Irma riss einen Grashalm aus und wickelte ihn sich um die Finger. »Woher hast du das gewusst?«
    Melisande erschrak. »Was gewusst?«
    »Das mit den Traumtropfen. Das habe ich noch nie gehört, und du hast es gesagt, als hättest du es schon Dutzende Male gesehen.«
    Melisande hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Warum konnte sie nicht ihren Mund halten? Ständig kam ihr gefährliches Wissen über die Lippen. Sie überlegte fieberhaft. »Du weißt doch, mein Bruder war Schreiber in Augsburg«, sagte sie schließlich. »Da musste er auch bei peinlichen Verhören anwesend sein und alles aufschreiben. Er hat es mir erzählt.«
***
    Als Eberhard von Säckingen auf Rottweil zuritt, tauchte die Abendsonne die Mauern der Stadt in rotes Licht. Er verlangsamte das Tempo und ließ seinen Wallach in gemächlichem Schritt laufen. Er hatte keine Eile. Im Gegenteil: Er wollte jede Minute auskosten, denn er spürte mit jeder Faser seines Körpers, dass er Mechthild so nah war wie seit jenem Tag auf dem Fronhof nicht mehr. Er hatte Arnfried dabei und einen Knappen, der Arnfried und ihm zu Diensten war. Vor über einer Woche hatten vier seiner Männer ein Lager in der Nähe der Stadt aufgeschlagen, um die Familie

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