Die Tränen der Henkerin
verschwendet? Erst jetzt fiel Melisande auf, dass sie lediglich wusste, dass sein Haus außerhalb der Mauern in der Nähe des Neutores gelegen war. Einmal war sie daran vorbeigegangen, und der Schmerz der Erinnerung an Raimund, den Henker, der sie großgezogen hatte, hatte sie fast überwältigt. Vermutlich hatte sie deshalb nicht weiter darüber nachdenken wollen. »Darf er denn auch ins Badehaus?«, fragte sie. Raimund hatte immer davon gesprochen, wie gern er einmal ins Badehaus gegangen wäre.
Irma lachte schallend. »So weit treiben wir es nun doch wieder nicht! Dann würde ja niemand mehr einen Fuß über die Schwelle setzen können. Es muss zwar jemanden geben, der diese schreckliche Arbeit macht, die uns von Gott befohlen wurde und daher dem Gesetz entspricht – und doch ist und bleibt ein Henker unrein.«
»Ach!« Melisande wunderte sich. Wie verschieden die Städte doch waren! In Esslingen war der Henker von furchtbaren Geheimnissen umgeben gewesen, ein Ausgestoßener, ein notwendiges Übel, dem niemand gern begegnete. Hier in Rottweil schien man dem Mann mit mehr Respekt zu begegnen. »Und gilt das Wort des Henkers in Rottweil?«, fragte sie und machte ein paar Schritte vorwärts.
»Wenn es von drei Zeugen bestätigt wird.« Irma schaute sie neugierig an. »Du willst aber auf einmal viel über den Henker wissen, Melissa. Dafür, dass ich dich mit Engelszungen überreden musste, mitzukommen, bist du ganz schön neugierig. Hast du denn bei euch in Augsburg nie etwas mit dem Henker zu schaffen gehabt? Oder war es dort so anders als hier?«
Was sollte sie darauf antworten? Sie tat so, als würde sie in ihren Erinnerungen wühlen, und wollte schon eine erfundene Geschichte erzählen, als sich zu ihrer Erleichterung die Menschenmenge wieder in Bewegung setzte und Irma ihre Frage vergaß, weil Melisande und sie von dem Strom mitgerissen wurden. Hinter dem Waldtor verliefen sich die Menschen wieder ein wenig, es herrschte jedoch noch immer großes Gedränge. Plötzlich blieben die Leute stehen, es bildete sich eine Gasse, und die Menschen glotzten und renkten sich dabei fast die Hälse aus. Da kam er: Balthasar, der Henker von Rottweil. Er führte den Zug an, mit dem der arme Sünder zum Richtplatz geführt wurde. Bei seinem Anblick schwanden Melisande beinahe die Sinne. Ganz dicht schritt er an ihr und Irma vorüber, und sie konnte sehen, dass er kaum größer war als sie selbst und auch in etwa ihre Statur hatte: schmale Hüften und schlanke Glieder. Bestimmt war er noch sehr jung. Er machte den Eindruck, kaum das Richtschwert heben zu können, doch Melisande wusste aus eigener Erfahrung, dass das Äußere eines Menschen täuschte.
Dem Henker folgte der Karren mit dem Verurteilten. Melisande duckte sich, um den Gaben der Rottweiler auszuweichen. Exkremente, faules Obst und Gemüse, sogar Steine flogen dem Wilhelm Götzer um die Ohren – dem Mann, der seinen Bruder ermordet haben sollte. Der Bursche ertrug die Schmähungen ohne jede Regung. Sein Blick war starr, die schmutzigen Hände hielten die Gitterstäbe des Karrens umklammert. Bestimmt hatte der Henker ihm etwas verabreicht, das seine Sinne abstumpfte.
Dem Karren folgten ein Priester und die Richter in ihren prächtigen Roben. Sie hielten gebührend Abstand, um keine der stinkenden Gaben abzubekommen, und hatten feierliche Mienen aufgesetzt. Mehr und mehr Menschen drängten hinzu, der Zug geriet ins Stocken und bewegte sich immer langsamer erst auf das Neutor zu, dann in südwestlicher Richtung auf der Straße nach Villingen und schließlich im Schneckentempo an der Scherer Kapelle vorbei nach Norden. Die Vorräte an Wurfgeschossen nahmen kein Ende, ebenso wenig das unflätige Gegröle, und Melisande schämte sich, weil die Menschen, von denen sie einige gut kannte und eigentlich schätzte, ein solch großes Vergnügen daran hatten, einen armen Sünder zu quälen.
Endlich kam der Richtplatz mit der Tribüne für die hohen Herren in Sicht. Irma zog Melisande hinter sich her, drängelte sich nach vorn, sodass sie einen Platz in der ersten Reihe ergatterten, von wo aus sie einen guten Blick auf die Richter, den Henker, den Angeklagten und den Richtplatz hatten.
Melisande kannte das Prozedere nur zu gut, und sie bezweifelte nicht, dass Götzer noch heute im Fegefeuer landen würde – es sei denn, ihn ereilte eine der furchtbaren Strafen, bei denen der Tod hinausgezögert wurde. Würde er etwa gerädert werden, würde er unter unvorstellbaren Qualen
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