Die Tränen der Henkerin
Moment. »Vielleicht, weil es ihm Spaß macht? Oder weil es sonst nicht blutig genug wäre?«
Melisande holte tief Luft. Irma hatte keine Ahnung. Es mochte zwar den einen oder anderen Henker geben, der seine Bestimmung darin gefunden hatte, Menschen zu quälen und zu töten. Die meisten waren jedoch in ihr Schicksal gestoßen worden und versuchten, ihre Arbeit so zu machen, wie es die Gesetze verlangten. Und es gab viele Henker, die nicht damit zurechtkamen, die sich um den Verstand soffen oder die schlimmste aller Sünden begingen und sich selbst richteten. Wie wohl der Rottweiler Henker sein mochte?
»Und die Salben, die die Henker aus Menschenfett machen?«, plapperte Irma weiter. »Sind die etwa auch erfunden? Der Sibelius – du weißt schon: der Bäckergeselle – hat mir bei seiner Seele geschworen, dass er schon gesehen hat, wie Balthasar, unser Henker, solch eine Salbe an den Meister Andreas verkauft hat, der eine dicke Warze im Gesicht hatte. Und zwei Wochen später war die Warze weg.«
So lange dauert es halt, bis eine Warze von selbst verschwindet, dachte Melisande. Doch sie sagte nichts. Natürlich nutzten die meisten Henker den Aberglauben der Menschen für ihre Geschäfte. Sie verkauften Salben aus Menschenfett, Amulette aus den Knochen der Hingerichteten und so manch anderes angebliches Wunderheilmittel. Nur wurden für die Salbe zumeist Schweinefett und für die Amulette Hühnerknochen verwendet. Warum auch nicht? Schließlich wurde so beiden Seiten geholfen.
Melisande seufzte. Auch sie hatte ab und zu dem einen oder anderen hartnäckigen Kunden irgendetwas aus Heilkräutern zusammengemischt und ein paar Heller dafür verlangt. Hätte sie es nicht getan, hätte sie die Leute nur gegen sich aufgebracht. Zwar gab niemand zu, dass er beim Henker kaufte, doch hinter vorgehaltener Hand tauschten die Menschen Gerüchte aus. Und natürlich wirkte ein Wundermittel besser als das andere. Eine seltsame Welt: Als Henker Melchior hatte man ihr das Geld für einen faulen Zauber hinterhergeworfen, als Heilerin Mechthild wäre sie fast verbrannt worden, weil ihre Medizin wirkte. Es war also besser, so zu tun, als glaubte sie an die magischen Kräfte des Henkers. »Das mag ja stimmen«, sagte sie zu Irma. »Trotzdem hoffe ich, dass ich nie eine Warze bekomme. Ich möchte mir um keinen Preis der Welt das Fett eines Toten ins Gesicht schmieren.«
»Da hast du recht.« Irma schüttelte sich. »Aber vielleicht sollte ich den Henker dennoch einmal aufsuchen. Nicht für mich, sondern für meinen Lieblingsonkel Egidius. Den plagt seit Wochen ein furchtbarer Schmerz im Bein. Keiner weiß, was es ist. Der Meister Chirurgicus hat ihn schon mehrfach zur Ader gelassen und ihm ein Pulver verschrieben, das er mit Wasser zu einem Brei anrühren und auf das Bein schmieren soll, doch das hat alles nichts genutzt. Und die Dienste des Meister Chirurgicus sind nicht gerade billig.«
Melisande biss sich auf die Zunge. Am liebsten hätte sie angeboten, nach Irmas Onkel zu sehen. Wahrscheinlich hatte er eine Entzündung, die von einer kleinen Wunde herrührte, die ihm gar nicht aufgefallen war. Sie wusste, was in so einem Fall zu tun war, und würde das Leiden vermutlich schnell beheben können. Aber das war zu gefährlich. Auch wenn Irma ihre Freundin war – niemand durfte erfahren, wie viel sie von der Heilkunde verstand.
Am Waldtor stauten sich die Menschen, sodass sie stehen bleiben mussten. Immer wieder schaute Melisande sich um, stets bereit, ihr Gesicht zu verdecken oder sich abzuwenden. Eine Hinrichtung zog viele Menschen an, die von fern und nah herbeiströmten, und es war immer möglich, dass unter den Fremden jemand war, der sie von früher kannte.
Irma merkte nichts von den Seelennöten ihrer Freundin und schwatzte ungerührt weiter. »Na ja, jedenfalls habe ich mir gedacht, ich spreche den Henker nach der Hinrichtung an und frage ihn, ob er helfen kann.«
Melisande verzog das Gesicht. »Bist du von Sinnen? Zum Henker gehen? In aller Öffentlichkeit? Willst du deinen Ruf aufs Spiel setzen?«
»Ich lade ihn ja nicht zu meiner Hochzeit ein, und ich werde ihn auch nicht berühren, keine Angst.« Irma grinste über das ganze Gesicht. »Ich weiß, dass er unrein ist, aber hier in Rottweil hat niemand Angst vor dem Meister Hans, zumindest solange man nicht in seiner Kammer sitzt und von ihm peinlich befragt wird.«
Warum hatte sie in den knapp zwei Jahren, die sie nun in Rottweil lebte, kaum einen Gedanken an den Henker
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