Die Tränen der Henkerin
»Seid Ihr ganz sicher?«
»Die Bestätigung des Goldschmieds.« Von Steyer zog ein Dokument aus seinem Umhang. »Er erinnert sich genau. Weil doch die Familie Wilhelmis –«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Othilia ungeduldig und zeigte auf das Bündel. »Und was habt Ihr da?«
»Ich habe die Lichtung, die Bärenhöhle und das Waldstück noch einmal gründlich abgesucht, wie Ihr befohlen habt. Es hat sich gelohnt.« Er wickelte ein Schwert aus dem Tuch und hielt es ihr so hin, dass sie lesen konnte, was unter der Parierstange stand. »Ich habe es reinigen lassen.«
Othilia entzifferte den Namen und unterdrückte einen Aufschrei. »Habt Dank, gute Arbeit«, sagte sie mit gepresster Stimme. Sie streckte die Hand aus und ließ von Steyer ihre Finger küssen. Er legte das Schwert, das Kruzifix und das Schreiben des Goldschmieds vor ihr ab, verneigte sich vielfach und entfernte sich.
Othilia betrachtete das Schwert. Nach dem ersten Schreck war ihr eine harmlose Erklärung dafür eingefallen, dass es in der Nähe von Ottmars Gebeinen gelegen hatte. Trotzdem würde sie seinen Besitzer zur Rede stellen. Für das Kruzifix allerdings gab es nur eine Erklärung, und die war alles andere als harmlos.
Othilia sprang auf. »Melisande Wilhelmis!«, hauchte sie in den leeren Saal. »Du niederträchtige, verschlagene Missgeburt! Dann hat mein geliebter Gemahl Ottmar also doch richtig vermutet. Du hast überlebt, Melisande, hast in irgendeinem Loch gewartet, bis die Zeit reif war. All die Jahre hast du auf eine Gelegenheit gelauert. Und dann, als dein Todfeind genügend geschwächt war, hast du zugeschlagen. Ja, so muss es gewesen sein. Von wegen ›Bärin‹! Von wegen ›Gottes gerechtes Urteil‹! Ein hinterhältiger Mord war es! Ja, es kann nur einen Grund dafür geben, dass dein Kruzifix bei den Gebeinen meines Gemahls lag. Du hast ihn getötet, Melisande Wilhelmis. Du hast ihn feige gemeuchelt. Mörderin!«
Othilia trat ans Fenster, das ihr einen weiten Blick über das Aichtal gewährte. »Wo immer du steckst, Melisande Wilhelmis: Ottmar de Bruce’ Tod wird nicht ungesühnt bleiben. Dafür wirst du bezahlen. Ich werde dich jagen, und ich werde dich finden. Und dann werde ich dir ganz langsam den Lebenssaft abzapfen. In winzigen Schlucken. Auf dass dein Sterben lang und qualvoll sein möge!«
***
Wilhelm Götzer wehrte sich nicht, als die Henkersknechte ihn griffen und an Händen und Füßen fesselten. Noch immer wirkte er betäubt. Unter dem Galgen lag ein großes Brett, das Melisande zuvor nicht aufgefallen war. Jetzt hoben die Knechte es an und legten eine Grube frei, die etwa die Größe und Form eines Grabes haben mochte. Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Dann geschah alles ganz schnell.
Der Henker gab wortlos eine Anweisung, und schon banden sich die Knechte Lumpen um die Hände, und zerrten einige trockene Dornenbüsche hinter der Tribüne hervor. Einen Teil davon warfen sie in die Grube.
Der Priester trat vor. »Pater noster, qui es in caelis: sanctificetur nomen tuum.« Er schlug mit der Hand das Kreuz, während er das Gebet murmelte.
Götzer begann nun doch zu wimmern, an seinen nackten Beinen lief es feucht hinunter. Offenbar ließ die Wirkung der Tropfen nach und der Mann begriff allmählich, was ihm bevorstand.
Der Priester trat zurück. Wieder genügte eine kaum wahrnehmbare Handbewegung des Henkers, damit seine Knechte wussten, was er von ihnen wollte. Sie traten vor, packten den Verurteilten unter den Armen und bei den Fußgelenken und schleuderten ihn in die Grube. Ein Stöhnen entwich Götzers Lippen, als er auf die Dornen fiel.
Die Grube war nicht tief, weshalb Götzer gut zu sehen war. Allerdings warfen die Knechte nun die übrigen Dornenbüsche auf den Mann, bis er völlig darunter bedeckt war. Zum Schluss trug einer von ihnen einen massiven Pfahl herbei, dessen unteres Ende angespitzt war. Balthasar nahm ihn entgegen. Kraftvoll stieß er den Pfahl in die Grube. Ein Schrei gellte über den Richtplatz.
Melisande schloss kurz die Augen. Der Henker war nicht so gnädig gewesen, Götzers Herz zu durchstoßen. Er sollte also noch ein wenig länger leiden. Wie grausam und gefühllos! Dieser Balthasar war ein Barbar. Es gab keinen Grund, den armen Götzer so zu quälen. Er litt schwer genug für seine Sünden. Am liebsten wäre Melisande davongelaufen, doch das war unmöglich, zum einen standen die Menschen viel zu dicht, und zum anderen wollte sie keinesfalls auffallen.
Den Leuten um sie herum
Weitere Kostenlose Bücher