Die Tränen der Henkerin
Diesmal wird es bestimmt ein Junge.«
»Du klingst wie Wendel.« Melisande verdrehte in gespieltem Ärger die Augen.
»Und wennschon. Diesmal muss es einfach ein Junge werden.« Irma griff nach ihrem Korb. »Komm, wir singen ein Lied, um uns den Aufstieg zu versüßen.« Mit leichten, federnden Schritten lief sie voran.
Freut euch, ihr Jungen und Alten!
Der Mai, der hat mit Macht
Den Winter vertrieben
Die Blumen sind getrieben
»Ich komme schon so kaum hoch, wie soll ich da noch singen?«, jammerte Melisande und folgte ihrer Freundin. Die aber sang einfach lauter.
Wie schön die Nachtigall
Auf dem Zweig ihr liebliches Lied singt
Mit wonniglichem Schall
Als sie eine Gruppe von Büschen umrundet hatten, waren Melisande und Irma dem Reiter so nahe gekommen, dass sie seine glänzende Rüstung und sein blondgelocktes Haar erkennen konnten.
Melisande gefror das Blut in den Adern. Das konnte nicht sein! Nicht ausgerechnet dieser Mann. Doch es gab keinen Zweifel. Die Haltung, die breiten Schultern und die Art, wie er die Zügel in einer Hand hielt, waren unverwechselbar. Es war Eberhard von Säckingen, und er kam genau auf sie zu. Hastig sprang Melisande hinter einen Strauch. Sie hatte keine Zeit mehr, Irma zu rufen, aber das machte nichts. Von Säckingen kannte die Freundin nicht und würde sie passieren, ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen. Wenn nur Irma nicht auf die Idee kam, sich nach ihr umzudrehen und sie zu suchen! Und womöglich den edlen Reiter um Hilfe zu bitten, wenn sie sie nicht sogleich entdeckte!
Melisande zitterte am ganzen Leib. Was machte von Säckingen in Rottweil? Und was wollte er zu dieser späten Stunde am Fluss? War er etwa ihretwegen in der Stadt? Hatte er herausgefunden, dass sie hier war, und wollte sie abfangen?
Die Hufschläge kamen näher. Melisande drückte die Zweige ein wenig auseinander und sah, dass von Säckingen Irma beinahe erreicht hatte. Gerade drehte die Freundin sich um, wohl um ihr etwas zuzurufen, und blieb erschrocken stehen.
»Nein, Irma!«, flüsterte Melisande verzweifelt. »Nein, ruf nicht nach mir! Geh weiter!«
In dem Augenblick ertönten laute Rufe, und eine Gruppe Reiter sprengte den Pfad herab. Von Säckingen hielt das Pferd an und wandte sich zu ihnen um. Auch Irma blickte hoch, doch nur kurz, dann schaute sie wieder hinunter zum Fluss. Sie schüttelte den Kopf, stellte den Korb am Wegesrand ab und lief zurück auf das Flussufer zu.
Die Männer riefen wieder, offenbar kannten sie von Säckingen. Seine Söldner? Verstärkung? Melisande wurde es schwindelig.
Im gleichen Augenblick erreichte Irma das Gebüsch. Sie sah Melisande und stürzte zu ihr. »Geht es dir gut? Du bist ganz weiß im Gesicht. Was ist mit dir?«
»Mir schwindelt ein bisschen«, murmelte Melisande. »Komm, wir setzen uns einen Augenblick. Es ist sicherlich gleich vorbei.«
Irma ließ sich neben Melisande im Gras nieder und legte den Arm um sie. »Entschuldige, dass ich mich über dich lustig gemacht habe, liebe Freundin. Ich wusste ja nicht, dass du wirklich so erschöpft bist. Wenn du dich ein wenig ausgeruht hast, trage ich beide Körbe hoch, dann hast du es weniger schwer. Oder soll ich Selmtraud rufen lassen?«
»Nein danke, es geht bestimmt gleich wieder.« Melisande vergewisserte sich, dass der Busch sie so gut wie möglich verbarg. Nichts war durch das Laub zu sehen, nur ein paar Wortfetzen drangen zu ihr herüber. Männerstimmen, sie klangen aufgebracht. Ein Pferd wieherte, dann donnerten die Hufe wieder los, doch diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Vorsichtig lugte sie um das Gebüsch. Von Säckingen und die anderen Reiter waren verschwunden.
Kurz darauf brachen sie auf. Irma bestand darauf, beide Körbe zu tragen, obwohl Melisande ihr versicherte, dass es ihr wieder gut ging. Als sie das Stadttor erreichten, ließ sie ihre Augen unauffällig die Hausfassenden entlangwandern. Wo mochten die Männer stecken? Waren sie noch in der Stadt?
»Heda, Kleiner, hast du gesehen, wohin die Ritter verschwunden sind?«, fragte Melisande einen Jungen, der an einem Stock schnitzte.
»Das habe ich.«
»Und?«
»Erst sind sie hier zum Tor hinaus, und dann kamen sie plötzlich zurück, kaum dass sie hindurchgeritten waren.«
»Und dann?«
»Was weiß ich.«
»Haben sie nichts gesagt? Bestimmt hast du etwas aufgeschnappt.«
»Der eine meinte, es sei eilig und die Herrin warte. Von einer Burg war die Rede.« Er kratzte sich an der Nase. »Adlerburg, glaube
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