Die Tränen der Justitia (German Edition)
ausgraben konnte.»
Kollege Moser war mit seinen Nachforschungen durch. Beim ersten Fall handelte es sich um ein Beziehungsdelikt: Der Täter erwürgte seine Mutter, die ihn ein Leben lang terrorisiert hatte, im Affekt. Im Gerichtssaal stiess er gegen Staatsanwalt Borer massive Drohungen aus, weil dieser ihn als einen der schänd liebsten Verbrecher bezeichnete. Der Verurteilte war vor zwei Jahren im Gefängnis gestorben. An Fall zwei konnte sich Ferrari noch erinnern. Das war Kollege Vettigers genialer Streich vor rund zehn Jahren! Dank eines Bluffs überführte er einen Versicherungsvertreter, der eine Hausfrau vergewaltigt und danach brutal umgebracht hatte. Bei der Verhandlung ging er auf Borer los, da der Staatsanwalt noch andere, ähnliche ungelöste Fälle ins Spiel brachte. Aber auch er lag inzwischen auf dem Friedhof Hörnli, Familienangehörige gab es in beiden Fällen keine. So wurden aus vier Dossiers zwei.
Mit den beiden verbliebenen Fällen beschäftigten sich Ferrari und Nadine näher. Toni Kaltenbach, ein extremer Sektierer, hatte aus Sendungsbewusstsein zwei Prostituierte ins jenseits befördert, angeblich im Namen Gottes. Einer inneren Stimme folgend, strich er nach eigenen Angaben nachts durch die Stadt, um die Unzucht zu bekämpfen. Die Polizei wurde auf ihn aufmerksam und stellte ihm eine Falle. Vor Gericht bedrohte er zuerst den Richter, schoss sich aber vor allem auf Borer ein. Der Staatsanwalt war für Kaltenbach der Inbegriff des Bösen, ein treuer Gefolgsmann des Teufels, der mit seinen Helfern und Helfershelfern sein gutes Werk zerstörte, so wenigstens glaubte er.
«Ein Teufelsaustreiber. Die Protokolle sind eine einzige Hasstirade gegen unseren Staatsanwalt. Er sagt sogar, dass Borer der Nächste sei, wenn er die Strafe verbüsst habe. Wo sitzt der Kerl, Stephan?»
«Er wurde wegen guter Führung und mit einem entsprechenden psychiatrischen Gutachten frühzeitig entlassen, und zwar vor zwei Monaten. Er ist einer meiner Favoriten. Ich habe mit dem Gefängnisdirektor telefoniert. Sie hielten ihn die ganze Zeit von den anderen Gefangenen fern, weil er sie laufend missionieren wollte. Nur mit dem Gefängnispfarrer kam er gut aus. Sie unterhielten sich stundenlang über die Bibel.»
«Hm, ein christlicher Spinner. Wo finden wir den Kerl? »
«Bei seiner Schwester am Clarahofweg.»
«Sinnigerweise!», konstatierte Ferrari.
«Wie meinst du das?»
«Weil der Clarahofweg ganz in der Nähe der Brantgasse liegt.»
«Du meinst, er pirscht sich erneut an und geht auf die Jagd?»
«Möglich wäre es.»
«Der Schwester konnte man nichts anhängen, aber der Richter war damals überzeugt, dass sie die treibende Kraft im Hintergrund ist.»
Blieb noch die vierte Akte. Ein äusserst verzwickter Fall. Der Apotheker Franz Heller vergiftete seine Frau über Jahre hinweg. Das Gift, das er sich in seiner eigenen Apotheke besorgte, schwächte die Frau zusehends und führte letztendlich zum Versagen des Nervensystems. Ihr Bruder gab so lange keine Ruhe, bis eine Untersuchung eingeleitet wurde. Und tatsächlich konnte eine Toxikologin an der exhumierten Leiche Giftspuren nachweisen. Heller beteuerte bis zuletzt seine Unschuld, doch das überzeugende Schlussplädoyer von Staatsanwalt Borer liess keine Zweifel mehr offen. Im Laufe der Ermittlungen kam der furchtbare Verdacht auf, dass er bereits seine erste Frau vergiftet haben könnte. Da er sie aber einäschern liess, konnte das Gericht ihn nur wegen einfachen Mordes verurteilen. Das Motiv für seine Tat blieb unklar. Vermutlich wollte er seine Frau einfach loswerden. Pikantes Detail am Rande: Bei Heller handelte es sich um einen Schulfreund von Jakob Borer. Nachdem das Urteil gefallen war, hielt Heller im Gerichtssaal eine Brandrede gegen Borer. Er nannte ihn einen Nestbeschmutzer, für den Freundschaft nur ein leeres Wort sei, und schwor Rache.
«An den Fall kann ich mich auch noch gut erinnern. Das beschäftigte halb Basel. Vor allem unter Monikas Apothekerkollegen wurde heftig diskutiert. Heller wurde aus dem Verband ausgeschlossen und erhielt lebenslängliches Berufsverbot. Monikas Vater war damals Präsident der Apothekervereinigung.»
«Und wo befindet sich der Giftmischer jetzt?»
«Zu Hause in seiner Villa am Schaffhauserrheinweg.»
«Keine schlechte Wohnlage. Wie lange sass er hinter schwedischen Gardinen?»
«Elf Jahre. Er ist seit zwei Wochen wieder draussen, Francesco.»
«Hm. Der Sektierer und der Giftmischer, beide kommen infrage.
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