Die Tränen der Massai
die jungen Frauen waren zu Hause unglücklich. Die Männer in den Städten hatten Geld, mit dem sie Stadtdinge kaufen konnten. Die Frauen mussten sich nicht mehr um Ziegen kümmern, den ganzen Tag Feuerholz schleppen und die restlichen Stunden ihres Lebens mit Weben und Perlenfädeln verbringen. Es gab Männer in den Städten, die bereit waren, eine Massaibraut zu nehmen und den Spott zu ertragen, mit dem andere sie bedachten, weil ihre Frau aus einem primitiven Stamm kam. Aber die Frauen würden ihre Tradition verlieren. Was würde aus den Kindern werden? Sie würden Kikuyu sein oder Turkana oder Kalenji oder welchem Stamm der Vater auch immer angehören mochte.
Manchmal wurde ihm die Last, ein wahrer Massai zu sein, unerträglich schwer. Er musste ununterbrochen kämpfen, um die Traditionen am Leben zu erhalten. Es rieb ihn auf wie einen Mann, dessen Aufgabe darin bestand, sein ganzes Leben lang einen schweren Stein herumzutragen.
Wenn sie keinen
Laibon
mehr hatten, wer sollte die Massaigeschichten weitertragen? Geschichten darüber, wie Donner und Blitz gemacht worden waren. Oder über Maasinta, den ersten Massai. Wer würde dafür sorgen, dass die Jungen lernten, wie man ein
Morani
wurde? Wer würde den alten Weg aufrechterhalten?
Er seufzte, wandte den Blick von dem Hügel weicher, frisch aufgegrabener Erde ab und schaute wieder zum Himmel. Seine
Kokoo
hatte sich schon einige Jahre den Frieden des Todes gewünscht; warum war sein Herz also so schwer?
Etwas war ungetan geblieben. Er konnte sich nicht länger wehren. Die Botschaft war eindeutig.
Es war nicht der Laikipia-Himmel, der ihm diese seltsamen Gefühle vermittelte. Kokoo hatte ihn auf diesen Augenblick vorbereitet, und sie war es gewesen, die ihm gesagt hatte, was er tun musste. Aber es würde eine Last sein. Eine schmerzliche Last. Er brauchte wieder einmal Kokoos Magie.
Auf seinen Ruf hin kam der Motonyi-Vogel aus dem Nachthimmel zu ihm und bedeckte seine Augen mit seinem leuchtend bunten Gefieder.
Kapitel 41
Aus Peabodys Ostafrikaführer (5. Auflage)
Vergessen Sie nie, bei Ihren Ausflügen Ihr eigenes Wasser mitzunehmen.
Z iada lag auf der Plattform neben Kokoos Küche. Sie war beinahe sofort eingeschlafen, nachdem sie ihr in die Hütte geholfen hatten, aber es war ein unruhiger Schlaf, der hin und wieder von schweren Hustenanfällen unterbrochen wurde.
Jack wiegte Malaikas Kopf in seinem Schoß und säuberte ihr zerschlagenes Gesicht im Licht des Feuers, das er in der Feuerstelle erneut entzündet hatte.
»Wie geht es dir, Prinzessin? Ich meine …«
Langsam öffnete sie die Augen. »Ich bin müde.« Sie hob eine Hand und streichelte seine Wange. »Und Prinzessin ist in Ordnung. Es hat eine lange Geschichte.«
Er nickte, und in seinen Augen stand ein Lächeln.
Ihre Begegnung im Carnivore war für Malaika zu einer lange zurückliegenden Erinnerung geworden. Selbst die paar Tage seit Cottar’s Camp – die Zeit, die sie jetzt als die letzten Tage ihrer früheren Existenz betrachtete – schienen Monate zurückzuliegen. Sie war mehr als müde. Sie fühlte sich wie betäubt. Seit Cottar’s Camp hatte sie eine vergessene Familie gefunden und eine Wiedergeburt erlebt, bei der sie erneut zur Massai geworden war – sie hatte den kritischen fehlenden Teil ihrer Psyche zurückerlangt. Sie hatte Entführung und Mord überstanden und mehr gewaltsames Sterben gesehen, als sie sich hätte vorstellen können. Aber die Schuldgefühle in ihrem Hinterkopf waren geblieben. Sie lauerten dort seit Jahren, hatten sich hinter dem Schutz ihrer Probleme verborgen, Probleme, wie eine Wohnung und Arbeit zu finden oder eine Ausbildung zu erhalten. Mit Leuten wie Onditi umzugehen. Es gab viele Ausreden und viele Möglichkeiten, zu vermeiden, sich der Tatsache zu stellen, dass sie ihre Mutter vernachlässigt, dass sie den Traum ihrer achtjährigen Schwester von einer Flucht nach Nairobi verdrängt hatte. Dass sie sich im Geist von Kokoo abgewandt hatte. Selbst ihr liebenswerter, reizbarer Bruder Kireko verdiente, dass man sich an ihn erinnerte und ihn vermisste. Sie nahm an, dass diese Schuldgefühle immer vorhanden gewesen waren, vergraben wie so vieles andere unter einem Berg von Nachsicht und Selbstmitleid.
Und da war Jack, seine Gegenwart und seine Kraft. Sie hatte seine Hilfe angenommen, bis zu dem Punkt, als er sein eigenes Leben und das Leben von anderen aufs Spiel gesetzt hatte. Im Gegenzug hatte sie ihm nicht einmal einen einzigen Hinweis
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