Die Tränen der Massai
Malaika.
Der Wind nahm an Intensität zu, heulte und zischte in der Nacht. Er schien jedes Molekül von Staub und Schutt in seine Mitte zu ziehen. Die Luft knisterte von unsichtbarer Energie wie in dem Augenblick, bevor ein Blitz einschlug. Jack musste sich anstrengen, zu atmen.
Farbe blitzte im Dunkeln auf, und Mengoru fuhr herum.
Auch Jack sah es – etwas Rotes, das rasch aus der Dunkelheit geschossen kam. Zunächst hielt er es für einen Menschen, eine winzige Gestalt in langem rotem Gewand mit Kapuze. Aber ein wildes Kreischen wie das eines rachsüchtigen Adlers zerriss die Luft. Die Gestalt flog durchs Feuer und zog Flammen mit sich.
Mengoru stieß einen erschrockenen Schrei aus. Er versuchte, das Geschöpf abzuwehren, aber die Flammen, die aus dem roten Gewand züngelten, hatten ihn erreicht. Sie umgaben ihn, ließen ihn panisch hin und her taumeln, und seine alkoholdurchtränkte Kleidung geriet in Brand.
Jack, der seinen Arm schützend gegen die Hitze erhoben hatte, sah, wie Mengoru mit der Gestalt rang. Sie schien ihn zu umarmen. Er taumelte rückwärts aufs Feuer zu, kämpfte dagegen an, fluchte und flehte dann schreiend um Gottes Gnade.
Im letzten Augenblick, als er am Rand des Feuers schwankte, streckte er die Hand nach Malaika aus. Ein Sturm von Aschefunken und Flammen explodierte in den Himmel, als er rückwärts ins Inferno stürzte.
Der Nachthimmel sah aus wie zuvor. Die Sterne waren ebenso hell und glitzerten wie am Himmel über Isuria, aber Kireko betrachtete sie auf andere Art. Hier in Laikipia wusste er, dass dieser Himmel seinen Vater zugedeckt hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Er hatte seinen Großvater Lenana zugedeckt, den Sohn des
Großen Laibon
Mbatian. Mbatian war der Sohn von Supeet, der der Sohn von Kipepete gewesen war, dem Sohn von Parinyombi …
Kireko rezitierte die Litanei seines Stammes bis zurück zu Ole Mweiya, der vom Himmel gekommen und von den Aiser, Kirekos eigenem Klan, gefunden worden war. Er hatte die Aiser als Wächter, als Verteidiger der Massai eingesetzt.
Unter diesen Sternen hatte Lenana in einem fehlgeleiteten Versuch, den Frieden aufrechtzuerhalten, einen Pakt mit den britischen Eindringlingen geschlossen. Die Massai hatten das Land ihrer Ahnen verlassen, damit die Weißen es bearbeiten und eine Eisenbahn bauen konnten. Im Gegenzug hatte man den Massai erlaubt, das Land des südlichen Grabenbruchs so lange zu behalten, wie sie als Volk existierten. Für immer. Das hatte seine
Kokoo
ihm erzählt, als er noch Kind an ihrer Feuerstelle gewesen war.
Und nun war Kokoo von ihnen gegangen. Begraben hier in Laikipia, wie sie es gewünscht hatte.
Er fragte sich, ob vielleicht auch die Massai starben und es nur nicht merkten. So vieles veränderte sich. Die Engländer hatten sich nie an den Vertrag gehalten. Entgegen der Bestimmungen hatten die Massai viel Land verloren, sogar den heiligen Berg Kinangop, wo sie seit Generationen ihre wichtigen Stammeszeremonien durchgeführt hatten. Eigentlich hätten auch Kireko und seine Altersgruppenbrüder im nächsten Monat ihre Zeremonie des Übergangs in die Reihen der Ältesten, ihr
Eunoto,
auf dem Kinangop abhalten sollen. Gegen die Bestimmungen des Vertrags war ihnen immer mehr Land genommen worden … Die
Wazungu
wollten es für ihre Safarilager, die Regierung für ihre Wildreservate, die Kikuyu wollten es für ihre Bauernhöfe.
Wer würde jetzt, nachdem Kokoo tot war, Seele und Geist der Massai sein? Wer würde ihr
Laibon
sein? Vom Kidongi-Klan, der traditionell den
Laibon
gestellt hatte, waren nur er und seine Schwester geblieben.
Kireko wollte dieses Amt nicht. Er hatte nichts für die Aufgaben eines Ältesten übrig; er hatte nicht die Geduld, bei den alten Leuten zu sitzen, um über langweilige Protokollangelegenheiten, Brautpreise und Zeremonien zu diskutieren. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, die Jagd und die Überfälle aufgeben zu müssen.
Viele seiner Altersgruppenbrüder hatten die Reihen der
Moran
bereits verlassen und lebten in den Städten. Kireko hatte keine Ahnung, was sie dort taten. Aber ihre Söhne würden nie die Erregung einer Löwenjagd kennen lernen. Sie würden nie die Macht erfahren, die ein Speer und ein gut gearbeiteter Schild einem Mann geben konnten. Sie würden nie die überwältigende Freude der endlosen sonnengebleichten Savanne erleben, würden nie ungehindert auf einen entfernten Horizont zulaufen, wo das Vieh eines Mannes fett und zufrieden werden konnte.
Und selbst
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