Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
nur am Straßenrand orientieren. Also tastete er sich weiter vorsichtig daran entlang.
Verfluchtes Pech! Verfluchter Nebel, der mit solcher Wut die ganze Landschaft samt jeder noch so kleinen Hütte unter sich begrub, in der man ihn vielleicht ein paar Stunden aufgenommen hätte, damit er sich ein wenig aufwärmen konnte. Ihm tat schon alles weh.
Das Pferd bewegte sich so ängstlich vorwärts, dass Alessandro nicht wagte, es anzutreiben, damit sie vielleicht doch noch vor Einbruch der Dunkelheit Blois erreichten. Aber war er überhaupt in der richtigen Richtung unterwegs oder vielleicht auf dem Rückweg nach Nevers?
Der Atem des Pferdes vermischte sich mit dem Nebel, der gar nicht daran dachte, sich zu lichten. Ganz im Gegenteil – die milchige Schicht wurde immer noch dichter, schwerer und zudringlicher. Mit dem Messer, das Alessandro am Gürtel trug, hätte er dicke Scheiben davon abschneiden können.
Da war nichts als bedrückende Stille um ihn herum, die nichts mit der vollkommenen Losgelöstheit zu tun hatte, über die man zu der Weisheit letztem Schluss gelangte. Die Ruhe war so bleischwer und beängstigend, dass sie ihn fast wahnsinnig machte.
Die Pferdehufe klapperten nicht auf dem gefrorenen Boden, es klang eher wie ein schwerfälliges Rutschen, das seltsam durch den dichten Nebel tönte. Alessandro bewegte sich noch immer äußerst langsam vorwärts und bemühte sich, das verängstigte Tier sicher zu führen, als er ein Geräusch wahrnahm.
Sollte sich etwa noch jemand auf diesen teuflischen Weg gewagt haben, der von Stunde zu Stunde lebensgefährlicher wurde?
Alessandro blieb stehen und lauschte eine Weile. Er überlegte. Schlimmer konnte es eigentlich nicht mehr werden; also beschloss er, auf das vage Geräusch zu reagieren, und rief:
»Hallo! Ist das jemand?«, wobei er mit den Händen einen Trichter um seinen Mund formte.
Er wartete. Keine Antwort.
»Hallo!«, rief er noch lauter, »ist da jemand?«, und ließ die Leine von seinem Pferd los, das sofort einen gefährlichen Satz machte.
Wieder hörte er nichts, aber ein schwacher, flackernder Lichtschein tauchte vor ihm auf und schien näher zu kommen.
»Hallo!«, brüllte er verzweifelt.
Endlich bekam er eine Antwort. Es klang wie eine Stimme aus einer tiefen Höhle.
»Ich kann Euch sehen!«, hallte es durch den Nebel.
»Ich bin Sire Van de Veere, unterwegs nach Amboise. Und wer seid Ihr?«
Schreckliche Sekunden lang glaubte Alessandro, er hätte sich die Stimme nur eingebildet, weil er wieder nichts hörte. Aber der Lichtschein kam näher und, oh Wunder, es war tatsächlich eine Fackel, die plötzlich so dicht vor seiner Nase war, dass er die kleine Flamme tanzen sah, und die geheimnisvolle Stimme klang nicht mehr ganz so hohl und fern.
»Guter Mann! Hier geht’s nicht nach Amboise. Das ist genau hinter Euch.«
»Verdammt!«, fluchte Alessandro. »Ich muss mich verlaufen haben, als mein Pferd gerutscht ist und sich ein paar Mal im Kreis gedreht hat. Und ich dachte, ich hätte mir die Richtung gemerkt.«
»Nach Amboise dauert’s bei dem Nebel ewig, guter Mann. Bis dahin sind’s noch ungefähr vierzig Meilen.«
Als er keine Antwort erhielt, schwenkte der Mann seine Laterne,
und in dem schwachen Lichtschein tauchte eine kleine, gedrungene Gestalt auf.
»Bis zu meiner Hütte ist es nicht weit, und ich finde den Weg mit geschlossenen Augen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr eine heiße Suppe bei mir kriegen und Euch ein paar Stunden aufwärmen. Ihr könnt die Einladung ruhig annehmen, ich hab’ sowieso schon einen Mann bei mir, der sich verirrt hat.«
»Nichts lieber als das, mein Guter! Du rettest mir das Leben, wenn du mich bei dir beherbergst, bis sich der verflixte Nebel verzogen hat. Es soll dein Schaden nicht sein.«
Der Fremde stand jetzt direkt neben Alessandro und leuchtete ihn mit seiner Laterne an.
»Ich hab’ leider kein Pferd«, sagte er mit einem Blick auf Alessandros Pferd, »aber mein Maultier ist recht tapfer. Der Nebel macht ihm nichts aus. Es geht wie bei schönstem Sonnenschein.«
Er lachte zufrieden und wollte gar nicht wieder aufhören, wahrscheinlich aus lauter Vorfreude auf die Belohnung. Aber das war auch nur gerecht. Viele arme Leute besserten ihr karges Einkommen ein bisschen auf, indem sie Reisenden halfen, die in Schwierigkeiten waren, was vor allem bei katastrophalen Wetterverhältnissen besonders einträglich war.
Überschwemmungen, Eiseskälte, Nebel und Sturm waren den unglücklichen Bauern,
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