Die Tränen der Vila
der Lichtung ab und zog meinen Dolch.
„Nein, bleib hier!“, zischte Hartmann mir nach. „Das riecht geradezu nach einer Falle!“
Gewöhnlich hätte ich jeder Anordnung meines Herrn Folge geleistet, doch seit er an seine Bahre gefesselt und ich der Stärkere war, wuchs mein Mut zu eigenen Entscheidungen. Nun war es in erster Linie die Aussicht auf ein unerwartetes Abendessen, die mich bewog, von einem Gebäude zum anderen zu huschen, stets in Deckung bleibend und mit der Waffe in der Hand. Die Ställe erwiesen sich als leer, und so pirschte ich weiter zum Eingang an der Längsseite des Hauses, drückte mich eng an die Wand und spähte hinein. Der Innenraum mit seinem irdenen Kamin und den strohgedeckten Schlafbänken war ebenso verlassen wie bei unserem ersten Besuch. Falls dieses Haus in der Zwischenzeit einem Menschen als Unterschlupf gedient hatte, war er vermutlich weitergezogen.
Ermutigt verließ ich das Haus, umrundete es und bog um die Giebelseite. Kurz blickte ich zu Hartmann hinüber und machte, nicht ohne Stolz auf meinen Mut, ein triumphierendes Zeichen mit der Hand. Dann näherte ich mich dem Hasen, der ausgestreckt an der Hinterwand des Hauses lag – und verlor plötzlich den Boden unter den Füßen.
Wäre mein Verstand nicht von Hunger und Erschöpfung getrübt gewesen, dann hätte ich mich vielleicht daran erinnert, dass unmittelbar vor dem Giebel eine Vorratsgrube gelegen hatte – ein birnenförmiger Hohlraum, fünf Ellen tief und nur durch eine Leiter begehbar. Die runde Einstiegsöffnung von der Größe eines Wagenrads war geschickt mit Zweigen und Blättern getarnt worden, die augenblicklich einbrachen, als ich den Fuß darauf setzte. Mit einem erschrockenen Schrei stürzte ich in die Grube und schlug unsanft auf dem gestampften Lehmboden auf. Blätter von der Abdeckung regneten auf mich herab, während ich stöhnend versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Zum Glück, so schien es, hatte ich mir keine Knochen gebrochen, wenngleich mir der Rücken schmerzte und mein linker Ellbogen sich übel verstaucht anfühlte. Als ich endlich wieder stand, erkannte ich, dass es mir unmöglich sein würde, aus eigener Kraft aus der Grube herauszuklettern.
„Odo!“, hörte ich Hartmann rufen – es klang seltsam schwach und dünn aus der Entfernung.
Leise Schritte raschelten im Gras, und ich wandte erstaunt das Gesicht nach oben. Alles, was ich sah, war zunächst die runde Einstiegsöffnung der Grube, ein Kreis tiefrot glühenden Abendhimmels über mir. Dann aber erhob sich ein Schatten, und allmählich erkannte ich die Gestalt eines Menschen, der an den Rand der Grube getreten war und auf mich herabblickte. Im ersten Moment schien die Gestalt beinahe formlos, und das Einzige, was ich mit Bestimmtheit ausmachen konnte, waren einige Locken dunklen Haars, die sacht vom Wind bewegt wurden. Ein hellerer Schemen verdichtete sich zu einem menschlichen Antlitz, und ich erkannte ein Paar großer, dunkler Augen, die auf mich gerichtet waren. Nun sah ich auch, dass die Gestalt in ein weites, erdbraunes Kleid gehüllt war, aus dessen Ärmeln zwei schmale Hände hervorragten. Die linke Hand hielt das Holz eines Bogens, die rechte dessen Sehne, halb gespannt und mit aufgelegtem Pfeil. Und endlich begriff ich. Es war tatsächlich das Mädchen – ebenjenes, dessen Familie auf so grausame Art zu Tode gebracht worden war: eine junge Frau von zierlichem Wuchs, kaum achtzehn Jahre alt, doch mit einem Ausdruck wilder Entschlossenheit im Gesicht.
Das Staunen überwog meine Furcht. Wie war das möglich? Hatte dieses Mädchen das Feuer gelegt, uns in den Sumpf gelockt, uns tagelang durch die Wildnis verfolgt und eine Falle nach der anderen gestellt? Natürlich war es möglich, erkannte ich. Nicht mehr als ein Bogen und verzweifelter Mut waren nötig gewesen, um unsere gesamte Fußtruppe einen nach dem anderen auszulöschen. Wer sonst hätte Anlass gehabt, uns derart hartnäckig zu verfolgen und so schauerliche Rache zu üben?
Sie machte keine Anstalten, den Bogen zu spannen und die Pfeilspitze auf mich zu richten. Ihre Augenbrauen zogen sich forschend zusammen. Erkannte sie mich wieder? Erinnerte sie sich daran, dass ich es gewesen war, der ihr vor Tagen zur Flucht verholfen hatte?
Erstaunt sah ich, wie sie sich abwandte, den Kopf hob und den Blick auf einen Punkt weit hinter der Grube richtete. Ihre nackten Füße glitten fast geräuschlos über das Gras, als sie sich in Bewegung setzte und den Bogen spannte. Ich
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